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Das Lied des Achill

Das Lied des Achill

Titel: Das Lied des Achill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeline Miller
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noch zu entscheiden«, antwortete der König, doch ich sah, dass er den Blick auf seinen Sohn richtete.
    Nein , dachte ich. Meine Hände umklammerten den Rand des Stuhls. Noch nicht . Thetis, die mir gegenübersaß, rührte keine Miene. Sie schien gewusst zu haben, dass es dazu kommen musste. Sie will, dass er geht . Der Zentaur und die Rosenquarzhöhle rückten plötzlich in unerreichbare Ferne, und nun verstand ich, was Cheiron gemeint hatte, als er sagte, die Welt geht davon aus, dass Achill geboren sei, um Krieg zu führen, dass seine Hände und die schnellen Beine allein zu diesem Zweck geschaffen wären – die mächtigen Mauern Trojas niederzureißen. Man würde ihn gegen Tausende trojanischer Speerwerfer antreten lassen und triumphierend mit ansehen, wie er ein Blutbad unter ihnen anrichtete.
    Peleus deutete auf Phoinix, seinen ältesten Freund, der an einem der vorderen Tische saß. »Fürst Phoinix wird die Namen derer notieren, die zu kämpfen gewillt sind.«
    Schon erhoben sich mehrere Männer von den Bänken. Peleus gebot ihnen mit einer Handbewegung Einhalt.
    »Was noch zu sagen wäre …« Er hielt ein Pergament voller Schriftzeichen in die Höhe. »Vor ihrer Vermählung mit König Menelaos hatte Helena viele Bewerber. Es scheint, dass sie alle demjenigen einen Eid schwören mussten, der ihre Hand gewinnen sollte. Agamemnon und Menelaos fordern nun diese Männer auf, ihrer Verpflichtung nachzukommen und dem rechtmäßigen Gatten die Frau zurückzuführen.« Er reichte einem Herold das Pergament.
    Ich traute meinen Ohren nicht. Der Eid . Im Geiste sah ich Bilder von einem Kohlebecken und das vergossene Blut einer weißen Ziege, eine Halle voll vornehmer Gestalten.
    Der Herold hob das Pergament vor sein Gesicht. Mein Blick verschwamm, als er zu lesen begann.
    Antenor.
    Eurypylos.
    Machaon.
    Ich kannte diese Namen wie alle im Raum. Aber für mich waren es nicht nur Namen. Ich hatte alle, die sie trugen, mit eigenen Augen gesehen, damals in der rauchgeschwängerten Halle.
    Agamemnon . Ich erinnerte mich an jenen grüblerischen Mann mit dichtem schwarzem Bart und eng zusammenstehenden, aufmerksamen Augen.
    Odysseus . Der mit der langen, zahnfleischfarbenen Narbe an der Wade.
    Ajax . Der fast doppelt so groß war wie alle anderen und einen riesigen Schild mit sich geführt hatte, der von zwei Sklaven gehalten worden war.
    Philoktetes , der Bogenschütze.
    Menoitiades.
    Der Herold legte eine Pause ein, ich hörte viele fragen: Wer? Mein Vater hatte sich in den Jahren meiner Verbannung mit keiner Leistung hervorgetan; sein Ruhm war verblasst, sein Name vergessen. Und wer ihn kannte, wusste nichts von einem Sohn. Ich saß stocksteif auf meinem Stuhl und wagte es nicht, mich zu rühren. Ich bin an diesen Krieg gebunden .
    Der Herold räusperte sich.
    Idomeneus.
    Diomedes.
    »Du warst da? Einer der Bewerber?«, flüsterte Achill kaum vernehmlich, doch ich fürchtete, dass ihn alle hören konnten.
    Ich nickte. Meine Kehle war so trocken, dass ich kein Wort herausbrachte. Ich hatte nur um Achill gefürchtet und mir Gedanken darüber gemacht, wie ich ihn würde zurückhalten können. Dass es dabei auch um mich ging, war mir nicht in den Sinn gekommen.
    »Hör zu. Du trägst längst einen anderen Namen. Sag nichts. Wir müssen uns mit Cheiron beraten und überlegen, was zu tun ist.« So hastig hatte ich Achill noch nie sprechen hören. Sein Drängen brachte mich wieder zur Besinnung, und sein Blick flößte mir Mut ein. Ich nickte wieder.
    Weitere Namen wurden vorgelesen. Ich erinnerte mich an die drei verhüllten Frauen auf dem Podest, von denen eine Helena gewesen war, an die vielen aufgehäuften Geschenke, die gefurchte Stirn meines Vaters, meinen Kniefall auf steinernem Boden. Was ich lange Zeit für einen Traum gehalten hatte, war Wirklichkeit gewesen.
    Als der Herold das Pergament wieder einrollte, kam Unruhe auf. Bänke kratzten über den Boden, und Männer eilten zu Phoinix, um sich zum Kampf zu melden. Peleus wandte sich an uns. »Kommt. Ich möchte mit euch reden.« Ich richtete meinen Blick auf Thetis’ Platz, um zu sehen, ob sie mit uns kommen würde, doch sie war verschwunden.
    Wir setzten uns zu Peleus an die offene Feuerstelle. Er bot uns Wein an, verdünnt mit einem Schluck Wasser. Achill lehnte ab. Ich nahm einen Becher entgegen, trank aber nicht. Der König saß auf seinem alten, mit Kissen gepolsterten Stuhl nahe am Feuer. Seine Augen ruhten auf Achill.
    »Ich habe dich zurückrufen lassen, weil

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