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Das Lied des Achill

Das Lied des Achill

Titel: Das Lied des Achill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeline Miller
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, den Listenreichen. Mir wurde angst und bange.
    »Und was siehst du?«, fragte Achill vorsichtig.
    »Dass, wenn du nicht mit nach Troja ziehst, deine Göttlichkeit ungenutzt in dir versiegt. Deine Kraft wird abnehmen und dein Schicksal dem des Lykomedes gleichen, der nur mit einer Tochter als Erbin auf dieser entlegenen Insel verkümmert. Du weißt so gut wie ich, dass Skyros schon bald von einem benachbarten Staat erobert wird. Und dann wird er seine letzten Jahre in Einsamkeit fristen und Brotrinde essen, die man für ihn einweichen muss. Wenn er stirbt, wird man fragen: Wer war das?«
    Seine Worte hallten durch den Raum und verdünnten die Luft, bis wir kaum mehr atmen konnten. Ein solches Leben war entsetzlich.
    Unerbittlich fuhr Odysseus fort. »Er ist heute nur noch deshalb bekannt, weil sich seine Geschichte mit der deinen überschneidet. Wenn du nach Troja ziehst, wird selbst der Geringste, auch wenn er dir nur einen Becher zu trinken gereicht hat, in den Legenden, die sich um dich ranken, mit Namen genannt sein. Du wirst –«
    Mit lautem Gepolter und stiebenden Splittern brach plötzlich die Tür auf. Auf der Schwelle stand Thetis, hell wie eine lodernde Flamme und so heiß, dass die zerborstenen Türflügel verkohlten. Ich duckte mich und spürte, wie mir die Hitze ins Mark fuhr und meine Adern auszutrocknen drohte.
    Odysseus’ dunkler Bart war mit dem Staub der aufgebrochenen Tür überzogen. Er stand auf. »Zum Gruße, Thetis.«
    Sie starrte ihn an wie eine Schlange ihr Opfer. Ihre Haut glühte, und die Luft schien zu flimmern. Diomedes rutschte auf den Knien zurück. Ich kniff die Augen zu, weil ich fürchtete, ein Blitz könnte auf uns niederfahren.
    Nach einer Weile, in der es vollkommen still blieb, wagte ich es, die Augen zu öffnen. Odysseus war unverletzt. Thetis hatte die Fäuste geballt. Ihr Anblick brannte nun nicht mehr in den Augen.
    »Die helläugige Jungfrau ist mir hold«, sagte Odysseus fast wie zur Entschuldigung. »Sie weiß, warum ich hier bin, und segnet, was mir am Herzen liegt.«
    Mir war, als hätte ich einen Teil seiner Rede nicht mitbekommen. Ich versuchte zu folgen. Mit der helläugigen Jungfrau meinte er wohl die Göttin der Weisheit und des Kampfes. Es hieß, dass sie Klugheit über alles schätzte.
    »Athene hat kein Kind zu verlieren.« Thetis’ Worte hingen in der Luft.
    Ohne weiter auf sie einzugehen, wandte sich Odysseus an Achill und sagte: »Frag deine Mutter, was sie weiß.«
    Achill schluckte hörbar in der stillen Kammer. Er schaute seiner Mutter in die schwarzen Augen. »Ist es wahr, was er sagt?«
    Inzwischen war die Glut, die sie ausgestrahlt hatte, erloschen. Übrig blieb nur der Anschein von Marmor. »Ja, es ist wahr, aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Da ist noch etwas, was er nicht auszusprechen wagt«, antwortete sie tonlos und wie aus dem Mund einer steinernen Statue. »Wenn du nach Troja gehst, wirst du nicht zurückkehren, sondern als junger Mann dort sterben.«
    Achill erbleichte. »Ist das gewiss?«
    Alle Sterblichen stellten diese Frage, ungläubig und entsetzt. Gibt es für mich keine Ausnahme? »Ja, es ist gewiss.«
    Wenn er mich in diesem Moment angesehen hätte, wäre ich in Tränen ausgebrochen. Doch sein Blick blieb auf seine Mutter gerichtet. »Was soll ich tun?«, flüsterte er.
    Ein leichtes Zittern zeigte sich auf ihrem Gesicht wie auf glatter Wasseroberfläche. »Das darfst du mich nicht fragen«, entgegnete sie und verschwand.
    Ich weiß nicht mehr, was noch zwischen den beiden Besuchern und uns gesagt wurde oder wie wir zurück in unsere Kammer gelangten. Ich erinnere mich aber an Achills verstörte Miene und die tiefen Schatten unter seinen Augen. Seine Schultern, sonst immer gestrafft, hingen schlaff herab. Ich selbst drohte an meinem Kummer zu ersticken. Bei dem Gedanken, er könnte sterben, war mir, als stürzte ich in einen schwarzen Abgrund.
    Du darfst nicht gehen . Tausendfach lag mir dieser Satz auf der Zunge, doch anstatt ihn auszusprechen, hielt ich seine Hände umfasst. Sie waren kalt und rührten sich nicht.
    »Ich würde es nicht ertragen«, sagte er schließlich. Er hatte die Augen geschlossen, und ich wusste, dass er nicht seinen Tod meinte, sondern den von Odysseus entsponnenen Alptraum, den Verlust seiner Herrlichkeit und Anmut. Ich wusste um seine Freude über die eigenen Fähigkeiten, seine wundersame Kampfkraft und Vitalität. Was würde von ihm übrig bleiben, wenn es damit vorbei wäre? Was, wenn er seiner

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