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Das Lied des Achill

Das Lied des Achill

Titel: Das Lied des Achill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeline Miller
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Phthia.
    Phthia war das kleinste unserer Länder, ein winziger Fleck nur, im Norden zwischen der Meeresküste und den Gipfelgraden des Othrys-Gebirges gelegen. Sein König Peleus war ein Liebling der Götter, selbst zwar nicht göttlich, aber klug, tapfer, stattlich und an Frömmigkeit allen Männern seines Standes überlegen. Und weil sie ihm günstig gesinnt waren, gaben ihm die Götter eine Nymphe zur Frau, womit ihm die größtmögliche Ehre zuteilwurde. Denn welcher Sterbliche würde nicht einer Göttin beiwohnen und einen Sohn mit ihr zeugen wollen? Göttliches Blut läuterte unser irdenes Geschlecht und brachte aus Staub und Lehm Helden hervor. Und mit dieser Göttin verband sich ein noch größeres Versprechen: Die Moiren hatten geweissagt, ihr Sohn werde den Vater bei weitem übertreffen. Sein Stamm wäre gesichert. Doch wie alle Geschenke der Götter hatte auch dieses einen Haken. Die Göttin selbst widersetzte sich.
    Jeder, sogar ich, kannte die Geschichte von Thetis’ Verführung. Die Götter hatten Peleus an einen heimlichen Ort geführt, zu einer Meeresbucht, in der sie sich gern aufhielt. Sie hatten ihn gewarnt, er solle keine Zeit mit Aufwartungen verschwenden – sie würde sich nie freiwillig mit einem Sterblichen einlassen.
    Sie hatten ihn außerdem auf das vorbereitet, was er zu erwarten hatte. Die Nymphe Thetis war ähnlich gerissen wie ihr Vater Proteus, jener wandlungsfähige Gott des Meeres, und wusste auf vielfältigste Art und Weise Gestalt anzunehmen, ob in einem Kleid aus Schuppen, Tierhäuten oder Federn. Und sie würde sich mit Schnäbeln, Klauen und Zähnen, mit Schlingen und Stachelschwänzen zur Wehr setzen, doch Peleus dürfe nicht von ihr ablassen.
    Peleus war ein frommer und gehorsamer Mann. Er tat, wozu ihm die Götter rieten, und wartete darauf, dass sie den schiefergrauen Wellen entstieg mit ihren schwarzen Haaren, die so lang waren wie ein Pferdeschweif. Da ergriff er sie und hielt sie gepackt, obwohl sie sich heftig wehrte, und sie rangen miteinander, bis beide erschöpft und geschunden im Sand lagen. Das Blut aus den Wunden, die sie ihm zugefügt hatte, vermischte sich mit der Schmiere ihrer verlorenen Jungfernschaft auf den Schenkeln. Sie hatte sich ihm vergeblich widersetzt, denn eine Entjungferung war so bindend wie ein Ehegelöbnis.
    Die Götter verlangten von ihr, dass sie mindestens ein Jahr lang bei ihrem sterblichen Gatten bleiben sollte, und sie diente ihre Zeit auf Erden ab, wie es ihre Pflicht war, wenngleich schweigend und mürrisch. Wenn er ihr nun nahe kam, ließ sie ihn gewähren und wehrte sich nicht, lag stattdessen nur da, kalt wie ein Fisch. Ihr widerwilliger Schoß empfing nur ein einziges Kind, und kaum war die Frist verstrichen, floh sie aus dem Palast und verschwand im Meer.
    Wenn sie zurückkehrte, so nur aus dem einzigen Grund, ihren Sohn zu sehen, doch sie blieb nie lange. Das Kind wurde von Ammen und Hauslehrern erzogen und unter die Aufsicht von Phoinix gestellt, dem getreuesten Berater Peleus’. Ob Peleus jemals bereute, von den Göttern beschenkt worden zu sein? Eine gewöhnliche Frau hätte sich an der Seite eines so milden und freundlich lächelnden Gatten wie Peleus glücklich schätzen können, doch der Meeresgöttin Thetis war er in seiner Sterblichkeit und Mittelmäßigkeit nur ein Gräuel gewesen.
    Ein Diener führte mich durch den Palast. Seinen Namen hatte ich nicht verstanden, aber vielleicht hatte er ihn auch gar nicht genannt. Die Räume waren kleiner als in meinem früheren Zuhause und entsprachen dem Geist der Bescheidenheit, in dem das Land regiert wurde. Die Wände und Böden waren aus dem Marmor, der hier in der Gegend abgebaut wurde und im Vergleich zu den Steinen, die man im Süden fand, makellos weiß schimmerte. Meine Füße nahmen sich darauf noch dunkler aus.
    Ich hatte nichts bei mir. Meine wenigen Habseligkeiten waren in meine Kammer gebracht worden, und das Gold meines Vaters befand sich auf dem Weg in die Schatzkammer. Ich fühlte eine seltsame Panik, als man mich von den Schmuckstücken getrennt hatte, meinen Begleitern auf der wochenlangen Reise, die mir meinen Wert versichert hatten: fünf Kelche mit ziselierten Stielen, ein schweres Zepter, ein Halsband aus getriebenem Gold, zwei schmuckvolle Vögel und eine Leier mit vergoldeten Armen. Letztere war, wie ich wusste, eine betrügerische Beigabe, denn das Instrument bestand natürlich aus billigem Holz und nahm den Platz ein, der mit Gold hätte aufgefüllt sein

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