Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lied des Achill

Das Lied des Achill

Titel: Das Lied des Achill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeline Miller
Vom Netzwerk:
Kampf. Der Riese stellte sich als Ajax vor, Sohn des Telamon. Er sprach mit einfachen, schnörkellosen Worten, behauptete, in direkter Linie von Zeus abzustammen, und stellte seine mächtige Statur als Beweis dafür heraus, dass er immer noch in der Gunst seines Urgroßvaters stand. Er brachte einen Speer mit wunderschönem Schnitzwerk als Geschenk dar. Die geschmiedete Spitze glimmte im Licht der Fackeln.
    Als Letzter kam der Mann mit der Narbe an die Reihe. »Nun, Sohn des Laertes?« Tyndareos wandte ihm sein Gesicht zu. »Was sagt ein unbeteiligter Beobachter zu diesen Vorgängen?«
    Der Angesprochene lehnte sich zurück. »Ich frage mich, wie du die Verlierer der Brautwerbung davon abhalten wirst, dir den Krieg zu erklären. Oder Helenas glücklichem Gatten. Ich sehe hier ein halbes Dutzend Männer, die sich am liebsten gegenseitig an die Gurgel springen würden.«
    »Das scheint dich zu amüsieren.«
    Der Mann zuckte mit den Achseln. »Ja, ich finde närrische Männer komisch.«
    »Der Sohn des Laertes macht sich über uns lustig«, schimpfte Ajax, der Riese, und ballte eine Faust, die so groß war wie mein Kopf.
    »Oh nein, Sohn des Telamon, niemals.«
    »Was dann, Odysseus? Erklär dich, und sei es nur dieses eine Mal.« Tyndareos schlug einen scharfen Ton an.
    Wieder zuckte Odysseus mit den Achseln. »Du treibst ein gefährliches Spiel mit diesen Männern. Ein jeder von ihnen ist voller Stolz und nähme es dir übel, wenn er abgewiesen würde.«
    »All das hast du mir bereits unter vier Augen gesagt.«
    Mein Vater zuckte zusammen. Verschwörung . Nicht nur er schien verärgert zu sein.
    »Das ist wahr, nun aber biete ich dir einen Vorschlag zur Güte an.« Er hob die leeren Hände. »Ich habe kein Geschenk mitgebracht und will auch nicht um Helena werben. Wie schon gesagt wurde, ich bin nur ein König über Felsen und Ziegen. Als Gegenleistung für meinen Vorschlag erbitte ich nur den Preis, den ich bereits genannt habe.«
    »Du sollst ihn haben im Austausch für deinen Vorschlag.« Wieder war eine flüchtige Bewegung auf dem Podest wahrzunehmen. Eine der Frauen berührte das Kleid der anderen.
    »So höre. Ich finde, wir sollten Helena entscheiden lassen.« Odysseus legte eine Pause ein, weil Unmutsäußerungen laut wurden. Frauen hatten in solchen Dingen nicht mitzubestimmen. »Niemand wird es dir je verübeln können. Aber sie muss sich jetzt entscheiden, hier und heute, damit man ihr nicht nachsagen kann, sie habe sich mit dir beraten oder gar von dir beeinflussen lassen. Und …« Er streckte einen Finger in die Höhe. »Bevor sie ihre Entscheidung trifft, sollte jeder, der hier anwesend ist, einen Eid leisten und schwören, dass er Helenas Wahl anerkennt und ihren zukünftigen Gatten gegen alle verteidigt, die sie ihm streitig machen.«
    Ich spürte die Unruhe in der Halle. Ein Schwur? In einer so unkonventionellen Angelegenheit wie die selbstbestimmte Gattenwahl einer Frau? Die Männer reagierten mit unverhohlenem Argwohn.
    »Nun denn.« Tyndareos wandte sich den verschleierten Frauen zu. Er verriet mit keiner Miene, was er dachte. »Helena, nimmst du diesen Vorschlag an?«
    Ihre Stimme klang wunderschön, war zwar leise, aber füllte dennoch den Raum. »Ich bin einverstanden.« Mehr sagte sie nicht, doch es reichte, um die Männer um mich herum zu berauschen. Selbst als Kind, das ich noch war, spürte ich die Macht, die von dieser Frau ausging. Ich erinnerte mich an Gerüchte, wonach ihre Haut vergoldet sei und ihre Augen wie Obsidiane leuchteten, jene schwarzen, gläsernen Steine, gegen die wir unsere Oliven tauschten. In diesem Moment war sie all die Preise wert, die in der Mitte der Halle aufgehäuft waren. Mehr noch, sie war unser aller Leben wert.
    Tyndareos nickte. »Also ordne ich es an. Wer zu schwören bereit ist, möge es nun tun.«
    Ich hörte Gemurmel und ein paar ärgerliche Stimmen. Doch niemand verließ die Halle. Helena, deren Schleier sich durch ihren Atem bauschte, hielt uns alle in ihrem Bann gefangen.
    Ein eilends herbeigerufener Priester führte eine weiße Ziege zum Altar. Hier in der Halle war ein solches Opfertier verheißungsvoller als ein Bulle, dessen Blut den gesamten Steinboden überspült hätte. Die Ziege starb ohne großes Klagen, worauf der Priester in einer Schale das Blut mit der Zypressenasche aus dem Kamin vermengte. Es war so still im Raum, dass alle hörten, wie es in der Schale zischte.
    »Sei du der Erste.« Tyndareos zeigte auf Odysseus. Selbst als

Weitere Kostenlose Bücher