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Das Lied des Achill

Das Lied des Achill

Titel: Das Lied des Achill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeline Miller
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sollte.

Zweiundzwanzigstes Kapitel
    D ie Überfälle waren zwar erfolgreich, aber eben nur Überfälle, die Opfer ausschließlich Bauern und Händler aus den Dörfern des Umlands, die die mächtige Stadt mit Lebensmitteln belieferten. Während der Ratsversammlungen machte Agamemnon einen zunehmend verbissenen Eindruck, und die Männer wurden ungeduldig. Wann käme es endlich zum versprochenen Kampf?
    Bald, antwortete Odysseus mit Blick auf die vielen Menschen, die in Troja Zuflucht suchten. Die Stadt musste inzwischen aus allen Nähten platzen, voll von Auffanglagern und hungrigen Familien. Es sei nur eine Frage der Zeit, sagte er uns.
    Wie durch seine Vorhersage heraufbeschworen, flatterte schon am nächsten Morgen eine Fahne über den Stadtmauern, die Verhandlungsbereitschaft signalisierte. Unsere Wachposten eilten über den Strand mit der Meldung, dass König Priamos bereit sei, eine Gesandtschaft zu empfangen.
    Unsere Männer gerieten in helle Aufregung. Jetzt würde endlich etwas geschehen, so oder so. Entweder würde Helena ohne weiteres Blutvergießen an uns ausgeliefert oder es käme zur offenen Schlacht um sie.
    Wie nicht anders zu erwarten war, schickte der Rat der Könige Menelaos und Odysseus als Gesandte auf den Weg. Im ersten Dämmerlicht stiegen sie auf ihre schmuckvoll herausgeputzten Pferde. Wir sahen sie das weite, grasbewachsene Feld vor Troja überqueren und hinter den dunkelgrauen Mauern verschwinden.
    Achill und ich warteten in unserem Zelt auf ihre Rückkehr. Ob sie Helena zu Gesicht bekommen würden? Paris konnte sie unmöglich von ihrem Gemahl fernhalten; er konnte es aber auch nicht wagen, sie zu zeigen. Menelaos hatte darauf verzichtet, sich zu bewaffnen. Vielleicht traute er sich selbst nicht.
    »Kannst du dir erklären, warum sie ihm damals den Vorzug gegeben hat?«, fragte mich Achill.
    »Menelaos? Nein.« Ich erinnerte mich an seinen stolzen, gut gelaunten Auftritt in Tyndareos’ Halle. Er hatte gut ausgesehen, war aber nicht der Ansehnlichste gewesen. Er war mächtig, aber es gab viele, die an Vermögen und Ruhm mehr zu bieten hatten. »Sein Geschenk war ein gefärbtes, sehr feines Tuch, und er sagte etwas sehr Charmantes, als er es überreichte. Zudem war ihre Schwester bereits mit seinem Bruder verheiratet. Vielleicht spielte das auch eine Rolle.«
    Achill hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt und dachte nach. »Glaubst du, sie ist freiwillig mit Paris gegangen?«
    »Wenn ja, wird sie es Menelaos gegenüber bestimmt nicht zugeben.«
    »Ich wette, sie ist freiwillig gegangen. Menelaos’ Palast ist wie eine Festung gesichert. Wenn sie sich gewehrt oder geschrien hätte, wäre ihr jemand zu Hilfe gekommen. Allerdings muss sie gewusst haben, dass er alles daransetzt, sie zurückzuholen. Und dass Agamemnon die anderen Bewerber von damals an ihren Eid erinnert.«
    »Damit hätte ich an ihrer Stelle nicht unbedingt gerechnet.«
    »Du bist auch nicht mit Menelaos verheiratet.«
    »Glaubst du etwa, sie hat es darauf angelegt, dass ein Krieg um sie geführt wird?« Ich war schockiert.
    »Kann sein. Sie war bekannt als die schönste Frau in unseren Ländern. Inzwischen heißt es, sie sei die schönste der ganzen Welt.« Seine Stimme klang fast wie gesungen. »Tausend Schiffe sind ihretwegen in See gestochen.«
    Von tausend Schiffen sprachen inzwischen die Dichter am Hofe Agamemnons; die korrekte Zahl – tausendeinhundertsechsundachtzig – hätte nur schwerlich in eine Zeile gepasst.
    »Vielleicht hat sie sich tatsächlich in Paris verliebt.«
    »Vielleicht hat sie sich einfach nur gelangweilt. Zehn Jahre in Sparta sind ihr womöglich genug gewesen.«
    »Vielleicht hatte Aphrodite ihre Hand im Spiel.«
    »Es würde mich nicht wundern, wenn die beiden mit Helena zurückkommen.«
    Wir machten uns nun Gedanken über diese Möglichkeit.
    »Wahrscheinlich würde Agamemnon trotzdem angreifen.«
    »Das glaube ich auch. Von ihr war in letzter Zeit überhaupt nicht mehr die Rede.«
    »Außer in den Reden an das Heer.«
    Wir schwiegen eine Weile.
    »Na, und für welchen Bewerber hättest du dich entschieden?«
    Ich gab ihm einen Knuff, und er lachte.
    Menelaos und Odysseus kehrten in der Abenddämmerung zurück, allein. Odysseus erstattete dem Rat Bericht, während sich Menelaos in Schweigen hüllte. König Priamos hatte sie freundlich empfangen und zu einem festlichen Gastmahl in seiner Halle geladen. Dann war er aufgestanden, flankiert von Paris und Hektor, die anderen achtundvierzig Söhne

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