Das Lied des Achill
den Mund. Viel hatten wir uns in den ersten Tagen nicht zu sagen, aber das war uns auch nicht wichtig. Es reichte uns, nebeneinanderzusitzen und die Wellen über die Füße schwappen zu lassen. Ein wenig erinnerte mich Brisëis an meine Mutter, wenngleich ihre Augen viel klarer und aufgeweckter waren.
An manchen Nachmittagen streiften wir durchs Lager. Dann machte ich sie auf Dinge aufmerksam und brachte ihr bei, wie sie in unserer Sprache hießen. So lernte sie Wort für Wort, und bald mussten wir uns nur noch gelegentlich mit Gebärden behelfen, die wir aber inzwischen so gut beherrschten, dass es kaum noch Missverständnisse gab. Wenn ich sie zum Beispiel bat, für uns zu kochen, übersetzte sie meinen Wunsch so gestenreich, dass ich das Essen beinahe riechen konnte. Immer wieder musste ich über ihre Einfälle laut lachen, was sie zum Schmunzeln brachte.
Die Überfälle wurden unvermindert fortgesetzt. Tagtäglich bestieg Agamemnon das Podest, auf dem sich die Beute häufte. »Ansonsten gibt es nichts Neues«, sagte er dann. Nichts Neues bedeutete, dass die Stadt weder Truppen in Stellung gebracht noch irgendwelche Botschaften an uns gerichtet hatte. Sie hatte sich trotzig verbarrikadiert und ließ uns warten.
Unsere Männer trösteten sich auf ihre Weise. Fast jeden Tag stand ein anderes Mädchen auf dem Podest. Es waren allesamt Bauernmädchen mit schwieligen Händen und sonnenverbrannten Nasen von der Feldarbeit. Agamemnon und die anderen Könige bedienten sich. Man sah die Frauen jetzt überall zwischen den Zelten Wasserkübel schleppen oder mit anderen Dingen beschäftigt, nach wie vor in den Kleidern, in denen man sie gefangen genommen hatte und die entsprechend abgetragen waren. Sie servierten Früchte, Käse und Oliven, bereiteten Fleisch zu und schenkten Wein aus. Sie polierten Metallspangen und klemmten, im Sand sitzend, das Rüstzeug zwischen die Beine. Manche webten sogar und spannen Fäden aus der Wolle von Tieren, die wir auf unseren Raubzügen erbeutet hatten.
Nachts dienten sie auf andere Art. Es war schrecklich für mich, an allen Ecken und Enden des Lagers ihre Schreie gellen zu hören. Ich versuchte, die Gedanken an ihre niedergebrannten Dörfer und toten Väter zu verdrängen, was mir aber kaum gelang. Die Schrecken waren den Mädchen ins Gesicht geschrieben und entstellten sie vielleicht noch mehr als die Faustschläge, mit denen sie traktiert worden waren.
Ich konnte den Anblick kaum ertragen, wenn sie auf das Podest gezerrt und feilgeboten wurden. Ich bat Achill, so viele von ihnen wie möglich für sich zu gewinnen, was ihm den Ruf eintrug, unersättlich zu sein. »Ich wusste gar nicht, dass du auf Mädchen scharf bist«, frotzelte Diomedes.
Brisëis kümmerte sich um jedes neue Mädchen und sprach ihnen in ihrer sanft klingenden Mundart Trost zu. Sie sorgte dafür, dass sie baden konnten, gab ihnen neue Kleider und machte sie mit den anderen bekannt. Wir ließen ein weiteres, größeres Zelt errichten, in dem alle – acht, zehn, elf – Mädchen Platz fanden. Nur Phoinix und ich sprachen mit ihnen; Achill hielt sich fern. Er wusste, dass sie ihn ihre Brüder, Liebhaber und Väter hatte töten sehen. Und das war unverzeihlich.
Mit der Zeit verloren sie ihre Angst. Sie spannen, unterhielten sich in ihrer Sprache und brachten einander die Wörter bei, die sie von uns aufgeschnappt hatten, nützliche Wörter wie Käse, Wasser oder Wolle. Sie lernten nicht so schnell wie Brisëis, gaben sich aber redlich Mühe, so dass sie bald mit uns reden konnten.
Auf Brisëis’ Bitte hin gab ich den Mädchen tagtäglich Unterricht, was sich schwieriger gestaltete als angenommen. Sie beäugten mich voller Argwohn und wussten nicht, was sie von mir halten sollten. Wieder war es Brisëis, die ihnen ihre Angst nahm und beim Lernen half, indem sie einzelne Wörter und Gesten erklärte. Ihr Griechisch war inzwischen so gut, dass ich sie beim Unterricht zurate ziehen konnte. Außerdem war sie die bessere Lehrerin, und viel lustiger. Wenn sie mit ihren Gebärden eine Eidechse mit schläfrigen Augen nachahmte oder zwei kämpfende Hunde, konnten wir uns vor Lachen nicht halten. Es machte mir Spaß, mit den Mädchen zusammen zu sein, und die Zeit verging wie im Flug, bis ich Achill auf seinem Wagen ins Lager zurückkehren hörte und nach draußen eilte, um ihn zu begrüßen.
In solchen Momenten fiel es mir noch einigermaßen leicht, zu vergessen, dass der eigentliche Krieg erst beginnen
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