Das Lied des Achill
mochten, denn aus den Tiefen Anatoliens strömten unablässig Kämpfer herbei, die sich einen Namen machen wollten. Unsere Männer waren nicht die Einzigen, die nach Ruhm und Ehre gierten.
Achill schien aufzublühen. Es drängte ihn zum Kampf, und er strahlte vor Glück, wenn er kämpfte. Nicht das Töten selbst war es, an dem er Gefallen fand, zumal er wusste, dass ihm kein Mann gewachsen war. Auch nicht zwei oder drei Männer. Ebenso wenig bereitete ihm das Gemetzel Freude – wenn es ihm darum gegangen wäre, hätte er mehr als doppelt so viele Gegner niederstrecken können. Er liebte es jedoch, wenn ein ganzer Haufen auf ihn zustürmte und zwanzig Schwerter auf ihn gerichtet waren. Dann war er in seinem Element, dann konnte er wahrhaft kämpfen . Er weidete sich an seiner eigenen Kraft wie ein Rennpferd, das, allzu lange angepflockt, endlich laufen konnte. Fiebernd und doch voller Anmut schlug er sich mit zehn, fünfzehn, zwanzig Männern. Das ist endlich das, was ich wirklich kann .
Ich musste ihn nicht so häufig begleiten, wie anfangs befürchtet. Je länger sich der Krieg hinzog, desto weniger wichtig erschien es, dass ausnahmslos jeder mitkämpfte. Ich war weder ein Prinz, dessen Ehre auf dem Spiel stand, noch ein einfacher, zum Gehorsam verpflichteter Soldat oder gar ein Held, auf den nicht verzichtet werden konnte. Ich war ein verbannter Außenseiter ohne Rang und Namen. Wenn Achill entschied, dass ich zurückblieb, hatte niemand Einspruch anzumelden.
Ich kämpfte immer seltener, bis ich schließlich nur noch einmal in der Woche mit ins Feld zog, und das auch nur dann, wenn mich Achill fragte. Was selten der Fall war. Ihm war es recht, für sich allein zu kämpfen. Manchmal aber wünschte er sich meine Begleitung und bat mich mitzugehen, damit ich ihm zur Hand gehen konnte, wenn das von Schweiß und Blut steif gewordene Lederzeug neu zu richten war. Oder damit ich Zeuge seines Wunderwirkens sein konnte.
Als ich ihm wieder einmal beim Kämpfen zusah, fiel mir auf, dass es einen Platz ganz in seiner Nähe gab, der nie von einem seiner Gegner eingenommen wurde. Je länger ich darauf starrte, desto heller wurde dieser Fleck, und schließlich offenbarte sich mir das Geheimnis. Es war eine Frau, weiß wie der Tod und größer als die Männer ringsum. Obwohl eine Unmenge Blut spritzte, fiel kein einziger Tropfen auf ihr hellgraues Gewand. Es schien, als würde sie über dem Boden schweben. Nicht, dass sie ihrem Sohn half; das brauchte sie nicht. Sie sah ihm nur zu, wie ich es tat, mit ihren großen schwarzen Augen. Ihrer Miene war nicht abzulesen, ob sie Freude, Trauer oder überhaupt etwas empfand.
Das änderte sich jedoch sofort, wenn sie sich umdrehte und mich sah. Dann zeigte sich unverhohlene Abscheu in ihrem Gesicht. Sie zischte dann wie eine Schlange und verschwand.
An Achills Seite fühlte ich mich sicher. Es war mir nunmehr möglich, andere Soldaten in Gänze wahrzunehmen, nicht nur Körperteile, klaffende Wunden und Bronze. Von ihm geschützt, wagte ich es sogar, die Schlachtreihen entlangzugehen und andere Könige aufzusuchen. Uns am nächsten war Agamemnon, der immer von seinen gut geordneten Mykenern umgeben wurde und aus dieser Sicherheit heraus Kommandos brüllte und Speere schleuderte. Darin war er Meister, was er auch sein musste, um seinem Trupp den Rücken zu stärken.
Im Unterschied zu ihm kannte Diomedes offenbar keine Furcht. Er kämpfte wie ein wildes Tier. Sein Gesicht war wutverzerrt, wenn er zuschlug und seine Opfer regelrecht zerfetzte, über die er sich dann wie ein Wolf hermachte, um sie auszuplündern und jedes Stück Gold und Bronze, dessen er habhaft werden konnte, auf seinen Streitwagen zu werfen, bevor er weiterzog.
Odysseus trug einen leichten Schild, duckte sich beim Angriff wie ein Bär und hielt seinen Speer tief abgesenkt. Mit scharfem Blick fasste er den Gegner ins Auge und schien jedes Mal vorauszusehen, wann und wie der Angriff auf ihn geführt wurde, den er dann geschickt abwehren konnte, um gleich darauf vorzustoßen und sein Opfer aufzuspießen wie einen Fisch. Am Ende eines Tages war seine Rüstung stets von Blut durchtränkt.
Ich lernte auch die Trojaner besser kennen. Paris verschoss ziellos jede Menge Pfeile von seinem Streitwagen aus. Auch wenn sein Helm einen Teil seines Gesichts verdeckte, war seine sagenhafte Schönheit unverkennbar. Mit seiner schlanken Hüfte lehnte er stolz und lässig am Rand des Streitwagens. In prächtigen Falten fiel sein roter
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