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Das Lied des Achill

Das Lied des Achill

Titel: Das Lied des Achill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeline Miller
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Mädchen zuckte vor Schreck zusammen. Tatsächlich gab er ein furchterregendes Bild ab in seinen blutbefleckten Kleidern, und es war ihr Dorf, das er und die anderen geplündert hatten.
    »Lass mich«, sagte ich und nahm ihm das Messer aus der Hand. Verlegen wich er einen Schritt zurück.
    »Ich werde dich von den Fesseln befreien«, erklärte ich dem Mädchen.
    Von nahem schaute ich ihr in die dunklen Augen, die auf die Klinge in meiner Hand gerichtet waren und mich an ein gehetztes Tier erinnerten.
    »Nein, nein«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Wir werden dir nicht wehtun. Im Gegenteil, ich befreie dich.«
    Der Schrecken war ihr ins Gesicht geschrieben. Sie verstand offenbar nicht, was ich sagte. Als einfaches Bauernmädchen, das sie war, hatte sie wahrscheinlich noch nie ein griechisches Wort gehört. Ich trat auf sie zu und legte ihr eine Hand auf den Arm, worauf sie zusammenzuckte, als fürchtete sie, geschlagen zu werden. Ich sah die Angst vor Missbrauch und Schlimmerem in ihren Augen.
    Ihr Anblick war mir unerträglich. Ich wollte sie beruhigen und wusste keinen anderen Rat, als zu Achill zu gehen, ihn am Kragen seines Hemdes an mich zu ziehen und auf den Mund zu küssen.
    Als ich mich von ihm löste, sah ich, dass sie uns anstarrte.
    Ich deutete auf ihre Fesseln und dann auf das Messer. »In Ordnung?«
    Sie zögerte einen Moment und streckte mir dann langsam ihre Hände entgegen.
    Achill suchte Phoinix auf mit der Bitte, ein zweites Zelt zu beschaffen. Ich ging mit ihr auf den Hügel, ließ sie im Gras Platz nehmen und verarztete ihr geschwollenes Gesicht. Mit niedergeschlagenen Augen ließ sie die Behandlung über sich ergehen. Dann zeigte ich auf ihr Schienbein, auf dem eine lange Schnittwunde klaffte.
    »Darf ich mal sehen?«, fragte ich und übersetzte, was ich sagte, in Gebärden. Sie antwortete nicht, ließ aber geschehen, dass ich die Wunde säuberte und einen Verband anlegte. Sie beobachtete jede meiner Handbewegungen, ohne mir auch nur ein einziges Mal in die Augen zu sehen.
    Danach führte ich sie in das neu aufgebaute Zelt. Sie erschrak, als ich den Einstieg aufschlug und auf das zeigte, was für sie bereitgestellt worden war: etwas zu essen, ein Krug Wasser und frische Kleider. Zögernd trat sie ein und schaute sich verwundert um. Ich ließ sie allein.
    Am nächsten Tag zog Achill wieder mit seinen Truppen los. Ich schlenderte durchs Lager, sammelte Treibholz und kühlte meine Füße in der Brandung. Immer wieder schaute ich zurück auf das neue Zelt. Das Mädchen hatte sich noch nicht herausgewagt. Der Einstieg war verschlossen wie die Tore Trojas.
    Endlich, es war schon gegen Mittag, sah ich sie. Sie beobachtete mich, halb versteckt hinter der Zeltplane. Als sie sah, dass ich sie bemerkt hatte, zog sie sich eilig wieder zurück.
    »Warte!«, rief ich.
    Sie trug eine meiner Tuniken, die ihr bis zu den Knöcheln reichte und sie wie ein Kind aussehen ließ. Wie alt war sie? Nicht einmal das wusste ich von ihr.
    Ich trat auf sie zu. »Hallo.« Sie starrte mich aus ihren großen Augen an. Die Haare waren zurückgekämmt und entblößten ihre zarten Wangenknochen. Sie war sehr hübsch.
    »Hast du gut geschlafen?« Ich weiß selbst nicht, warum ich immer wieder mit ihr zu reden versuchte. Vielleicht hoffte ich, sie damit trösten zu können. Cheiron hatte einmal gesagt, dass Säuglinge, auch wenn sie kein Wort verstehen konnten, sich durch gutes Zureden beruhigen ließen.
    »Patroklos«, sagte ich und zeigte auf mich. Sie warf mir einen flüchtigen Blick zu und schaute wieder zu Boden.
    »Pa-tro-klos«, wiederholte ich langsam. Sie schwieg, rührte sich nicht und hielt mit klammernden Fingern den Saum des Einstiegs gepackt. Ich machte ihr Angst und schämte mich dafür.
    »Keine Sorge, ich lasse dich in Ruhe«, sagte ich und wandte mich ab.
    Sie murmelte etwas. Ich blieb stehen.
    »Wie bitte?«
    »Brisëis«, wiederholte sie und zeigte auf sich.
    So lernten wir uns kennen.
    Es stellte sich heraus, dass sie ein wenig Griechisch sprach, ein paar Worte, beigebracht von ihrem Vater, als er hörte, dass die Griechen kommen würden. Gnade war eines. Ja und Bitte und Was wollt ihr? Anscheinend hatte er sie auf ihre Versklavung vorbereiten wollen.
    Tagsüber waren wir in unserem Lager fast ungestört. Häufig saßen wir am Strand und versuchten, uns zu verständigen. Bald konnte ich ihrer Miene und den ausdrucksvollen Augen ablesen, was ihr durch den Kopf ging. Wenn sie lächelte, hielt sie die Hand vor

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