Das Lied des Falken: Historischer Roman (German Edition)
man den Rentmeister mit einer Entschädigung von der Anklage abbringen könnte?«
Der Turmmeister schnaubte: »Wohl kaum. Er tobte.«
»Nun – dann vielleicht ein Schweigeversprechen?«
Buschige Augenbrauen zogen sich über der Nasenwurzel zusammen, und der Turmmeister betrachtete sie mit einem scharfen Blick von oben herab.
»Worüber müsste geschwiegen werden, Frau Alyss?«
»Nun, über den Ort, von wo das kostbare Pferd ausgeliehen wurde.«
»Der da war?«
»Hinter dem Hurenhaus ›Zur Eselin‹.«
Die Augenbrauen rutschten an ihren üblichen Platz, der Turmmeister zwinkerte, hüstelte und begann röhrend zu lachen.
»Vor der Sext – je nun, ein eifriger Mann, der Rentmeister Oldendorp. Folgt mir, Frau Alyss, ich will Euch den Missetäter übergeben. Und dem Rentmeister Euer Schweigen versichern.«
Man hatte Lucien in den Keller gebracht und dort mit schweren Ketten an die Wand gefesselt. Er sah erbarmungswürdig aus, offensichtlich hatte er sich den Wachen nicht wehrlos ergeben. Alyss empfand einen Hauch Mitleid mit dem Jungen, bemühte sich aber, es ihm nicht zu zeigen.
»Du junger Idiot«, herrschte sie ihn an. »Was ist nur in dich gefahren? Ist es in deiner Heimat üblich, Fremden das Pferd fortzunehmen?«
Er sah auf, das eine Auge vom Vortag blau und zugeschwollen, die Lippe aufgeplatzt, die Haare voll verkrustetem Blut.
»Isch ’abe sagen: › Je me prends votre cheval!‹ Sieur ’at ge’ört.«
»Offenbar gehört das zum guten Ton in Burgund«, fauchte Alyss ihn an. Der Junge nickte, zuckte aber zusammen. Er litt Schmerzen. Dem Turmmeister erklärte sie: »Er hat dem Rentmeister zugerufen, dass er sein Pferd nimmt. Offenbar ist das in besonderen Fällen in seiner Heimat gestattet.«
»Lucien!«, der Turmmeister baute sich vor ihm auf. »Du hast falsch gehandelt. Verstehst du mich?«
Ein klägliches Nicken erfolgte.
»Frau Alyss hat um Gnade gebeten.«
Seine Augen wandten sich ihr zu, es lag Hoffnung darin.
»Ich übergebe dich ihrer Obhut. Sie legt das Strafmaß fest.«
Er winkte dem Wächter, und der löste die Ketten. Lucien kroch von der Wand weg und mühte sich, auf die Beine zu kommen.
»Du wirst zu Fuß nach Hause gehen, Lucien, mit dem Reiten ist jetzt Schluss.«
Alyss drehte sich um und strebte dem Ausgang zu. Hier aber wurde sie am Weitergehen gehindert, denn zwei Männer kamen mit einer Trage den Gang entlang. Und auf der Trage lag eine Frau in nassen, tropfenden Gewändern. Grün war der Surcot, braun die Jacke, die Haube verrutscht, und die Haare quollen darunter hervor.
»Die Schiffer haben ein Weib aufgefischt«, meldete der Wachtmann.
Der Turmmeister trat hinzu und betrachtete die Tote. Alyss kam nicht umhin, ebenfalls einen Blick auf sie zu werfen, und stöhnte unwillkürlich auf.
»Kennt Ihr die Frau?«
»Ja. Das ist Luitgard, vor drei Jahren war sie die Amme meines Sohnes. Der Herr sei ihrer Seele gnädig.«
»Und heute?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe sie entlassen, als Terricus gestorben ist. Sie war ihrer Pflicht nicht nachgekommen.«
Sie merkte selbst, wie tonlos ihre Stimme klang, wandte sich abrupt ab und eilte auf die Straße. Erst als sie in die Witschgasse einbog, fiel ihr Lucien wieder ein, und sie drehte sich um. Er kam hinter ihr hergehumpelt. Sie wartete, bis er an ihrer Seite angekommen war.
»Muss isch beten?«
Es klang kläglich.
»Ja, aber leise und in deiner Kammer. Und vorher müssen wir deine Wunden versorgen«, sagte sie sanft.
Sie überließ es Hilda und wanderte in ihren Weingarten zurück. Der Anblick der toten Amme hatte sie zutiefst erschüttert. Drei Jahre war es her, dass Terricus im Rhein ertrunken war. Terricus, ihr Sohn, ein lebhaftes, aufgewecktes Kerlchen voller Spitzbüberei und Lachen. Wie sehr hatte sie ihn geliebt. Aber sie hatte zu wenig Milch, und darum hatte sie nach einer Amme für ihn gesucht. Luitgard wurde ihr von einem Handelspartner ihres Vaters anempfohlen, sie war die Witwe eines Zollschreibers, deren Kind bei der Geburt gestorben war. Sie schien wenig um Mann und Kind zu trauern und war eher eitel als klug, aber sie hatte sich liebevoll um Terricus gekümmert. Bis zu jenem tragischen Nachmittag, als sie mit dem Kleinen zum Rheinufer gewandert und dort in der warmen Sonne eingeschlafen war. Alyss erinnerte sich noch genau, wie sie händeringend und schluchzend ins Haus gelaufen kam und davon berichtete, dass der Dreijährige ihr entwischt war.
Einen Tag später hatten sie seinen kleinen, kalten
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