Das Lied des Falken: Historischer Roman (German Edition)
Staunen einen Augenblick stehen blieb, um zuzusehen, wie der gewaltige Tretkran einen riesigen, sorgfältig behauenen Stein nach oben schweben ließ.
Dann musste sie aber zwei Männern aus dem Weg gehen, die zwischen sich einen Bottich mit Gips trugen, und wandte sich Richtung Alter Markt. Später würde sie hier an den Ständen noch einige Einkäufe tätigen, jetzt aber galt es zunächst andere Dinge zu erledigen. Diszipliniertes Vorgehen hatte sie schon vor Jahren im Hauswesen von Frau Alyss und Master John gelernt. Dort hatte sie als junges Mädchen ihre Lehrzeit verbracht und großen Nutzen aus diesem Aufenthalt gezogen. Die Führung eines sehr lebendigen Haushalts hatte sie gelernt, die Buchführung eines schwunghaften Weinhandels, hartes Feilschen, kühles Beurteilen von Qualitäten und – nicht zu unterschätzen – die lateinische Sprache, in der sie der staubtrockene Magister Jakob unterrichtet hatte. Diese Kenntnisse wussten ihr Vater und ihre Brüder sehr zu schätzen, denn oftmals kamen Menschen aus fernen Ländern an die Fährstelle, die der heimischen Zunge kaum mächtig waren. Einige Brocken Latein jedoch konnte ein jeder, und Myntha half gerne, der Fremden Begehr zu übersetzen.
Doch bei Frau Alyss hatte sie nicht nur Arbeit kennengelernt, sondern auch überschäumenden Frohsinn. Manche wilden Scherze hatte sie mit den anderen Jungfern und jungen Männern getrieben, trauliche Gespräche beim Spinnen geführt und ernsthaftes Disputieren mit dem Hausherrn und den Gästen erprobt, die häufig das Hauswesen mit ihrer Anwesenheit beehrten. Besonders in ihr Herz geschlossen hatte Myntha aber Frau Alyss’ Eltern, den wohledlen Herrn Ivo vom Spiegel und die scharfzüngige Frau Almut. Anfangs hatte sie Angst vor dem brummigen Herrn gehabt, dessen Augen unter den buschigen Brauen vor geistiger Schärfe funkelten. Seine Donnerwetter, so munkelte man, waren furchterregend gewesen. Bis sie eines Tages entdeckte, dass sich hinter der Wortgewalt des großen Mannes ein tiefsinniger Humor und ein gütiges Herz verbargen und er auf eine treffende Erwiderung mit grollender Erheiterung reagierte. Sein Weib, eine ehemalige Begine, stand ihm an Witz in nichts nach, und das Geplänkel der beiden zu beobachten, hatte Myntha gezeigt, was es hieß, wenn sich zwei Menschen in grenzenloser Liebe zugetan waren.
Im vergangenen Jahr nun war Herr Ivo im gesegneten Alter von vierundachtzig Jahren sanft entschlafen, und sie betrauerte noch immer den Verlust.
Darum hielt sie auf ihrem Weg durch die Stadt an dem trutzigen Kloster von Groß Sankt Martin an, in dem Herr Ivo einst als Benediktinerpater gelebt hatte. Hier ruhte er nun auf dem Friedhof von Sankt Brigiden, der kleinen Kirche neben dem Kloster. An seinem Grab wollte sie eine Fürbitte für den gütigen Mann halten.
Dicht an der Kirchmauer hatte man ihn begraben, und zwei dunkelgrüne Eiben flankierten den Grabstein. Doch während Myntha den Lichhof überquerte, erkannte sie, dass sie nicht die Einzige war, die am Grab des wohledlen Herrn beten wollte. Es kniete eine Gestalt in einem dunkelgoldenen Gewand dort auf dem Grün, und ein Distelfink landete flatternd auf dem Grabstein des Herrn. Er begann, aus voller Kehle zu singen.
Myntha hielt in ihren Schritten inne. Frau Almut pflegte oft hierher zu kommen, um Zwiesprache mit ihrem Gatten zu halten. Wie unsagbar musste sie ihn vermissen, denn sie hatte viele Jahrzehnte an seiner Seite verbracht.
Myntha sprach ihre Gebete still in schicklicher Entfernung, doch dann sah sie plötzlich, wie Frau Almut die Trauer derart übermannte, dass sie niedersank und lang ausgestreckt auf dem Boden zu liegen kam.
Leise näherte sich Myntha und räusperte sich vorsichtig. Das Gras war noch taufeucht und sicher nicht bekömmlich für eine alte Dame.
Frau Almut bewegte sich nicht.
Myntha trat noch näher, beugte sich nieder und berührte sanft die samtbekleidete Schulter. Ein leises Stöhnen kam über Frau Almuts Lippen, dann flatterten ihre Lider.
»Habt Ihr Schmerzen, Frau Almut? Geht es Euch nicht gut?«
»Atmen so schwer«, keuchte die alte Dame leise. Dann drehte sie langsam den Kopf. »Myntha, Kind. Hilf mir auf.«
Ganz vorsichtig hob Myntha Frau Almut an, sodass sie sitzen konnte. Etwas leichter ging ihr Atem, und ihre Augen blickten wieder klar.
»Ich hole die Mönche, sie werden Euch ins Hospiz tragen.«
»Nein, nein. Es geht schon. Stütz mich, Liebes, und bring mich heim. Es ist ja nicht weit.«
Das war richtig: Das
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