Das Lied des Falken: Historischer Roman (German Edition)
als an einem Wecken zu nagen. Der Teig war weich, und es waren Rosinen und andere Fruchtstückchen darin. Es gelang ihr, sie mit der Zunge herauszuarbeiten und heimlich auszuspucken. Mochten sie auch harmlos sein, die Gefahr, wieder in die Betäubung zu versinken, wollte sie um jeden Preis vermeiden.
Duretta war offensichtlich zufrieden, plapperte noch ein wenig über ihre Haushaltssorgen und verließ sie schließlich, ohne die restlichen Wecken mitzunehmen.
Erleichtert trank Alyss noch einen Becher des sorgsam gehorteten Wassers und setzte sich wieder in die Fensternische.
Man hatte ihr die Kleider ausgezogen, um sie einer anderen Frau anzuziehen. Hoffentlich einer, die bereits tot gewesen war. Nicht einer, die sie dann erst umgebracht und in den Rhein geworfen hatten.
Hielten ihre Familie und ihre Freunde sie nun für tot?
Großer Gott, was hatten sie mit ihr vor?
Robert – Robert hatten sie auch für tot gehalten.
Zwei Jahre lang hatten sie ihn für tot gehalten.
Hätten sie damals die Leiche genauer untersucht, hätten sie bemerkt, dass der Mann nicht Robert war, der in dessen blutgetränkten Kleidern gelegen hatte.
Würde jemand die Leiche der Frau in ihrem Gewand untersuchen?
Marian, ja, er würde es tun. Und er würde erkennen, dass nicht sie es war, die man aus dem Rhein gezogen hatte. Aber war Marian unbeschadet von seiner Reise zurückgekehrt?
John – John und Robert würden auch Zweifel haben. War John schon in Köln?
Ihre Mutter – auf jeden Fall ihre Mutter. Sie würde sich selbst um die Aufbahrung kümmern.
Oder wäre ihr Gram zu groß?
Ihr Vater?
Sein Gram wäre zu groß.
Catrin. Auf ihre Ziehschwester konnte sie bauen. Sie hatte damals geholfen, Terricus auf die Welt zu bringen.
Aber wenn die Entführer klug waren, war die Leiche entstellt und die Tote nur an Alyss’ Kleidern und dem Schmuck zu erkennen.
Alyss schlug sich die Hände vors Gesicht. Ihre ganze mühsam aufgebaute Hoffnung war zusammengebrochen.
Wie eine alte, kranke Frau tastete sie sich zu dem Becher Wein mit dem betäubenden Mittel.
Besser, sie versank wieder in bunte Träume.
Mit einigen großen Schlucken trank sie ihn leer.
14. Kapitel
S ie hatten ihm die Kammer der Hausherrin überlassen, und erschöpft setzte John sich auf der Truhe vor dem Bett nieder, um seine Stiefel auszuziehen. Den ganzen Tag über hatte er sich bemüht, seine Sorgen zu unterdrücken, doch hier, in der Abgeschiedenheit, wollten sie ihn schier übermannen. Hier, in dem Raum, in dem sie ihre Kleider aufbewahrte, hier, in diesem Bett, unter dessen Decken sie schlief, roch es leicht nach Lavendel und Rosen und weckte Erinnerungen an seine Mistress, seine Geliebte, die er so gerne zu seinem Weib machen würde.
Auf bloßen Füßen ging er zu der Ecke, in der sie einen kleinen Altar aufgebaut hatte. Demütig kniete er vor dem geschnitzten Paar nieder: Maria, die zu Joseph aufschaute. Das Nachtlicht warf tanzende Schatten, wirbelte das Muster der durchbrochenen Tonschale über die Wände. Beten war für John nicht eben Gewohnheitssache. Er glaubte an einen Schöpfer, er glaubte auch an Güte und Liebe, aber er hatte zu viel erlebt und gesehen, als dass er Hoffnung hatte, der Herr oder die Heiligen würden sich um das Schicksal jedes einzelnen Menschenkindes kümmern. Doch das heilige Paar flößte ihm ein seltsames Vertrauen ein. Joseph ähnelte so sehr Lord Ivo, und Maria mit ihrem liebevoll neckenden Blick erinnerte ihn beängstigend an Lady Almut. Der Künstler, der beide geschnitzt hatte, hatte einen Teil der Seelen dieser beiden Menschen eingefangen, die er, John, mit tiefster Bewunderung verehrte.
Und darum betete er, wortlos, geboren aus Zweifel und Angst, um das Wohlergehen seiner Mistress Alyss.
An diesem Tag hatten sie die Wachen und den Turmmeister befragt, die einst Yskalt in den Kerker gebracht hatten. Marian und John hatten gehofft, ein dünnes, feines Fädchen zu entdecken, das möglicherweise zu den Entführern wies. Während der Unterhaltung war es John ausnehmend schwergefallen, den tranigen Gestalten nicht an die Gurgel zu gehen, und er hatte auch bemerkt, wie Marians Beherrschung bröckelte. Immerhin hatten sie schließlich herausgefunden, dass nur einer der beiden Männer, die Yskalt damals mitgenommen hatten, mit dem Gefangenen in dessen Sprache geredet hatte. Der hatte sich als Enno van Nijkerk, der andre als Reemt op de Kamp ausgegeben.
»Wir müssen das prüfen. Wir hätten dem damals schon nachgehen müssen«,
Weitere Kostenlose Bücher