Das Lied des Falken: Historischer Roman (German Edition)
konnte.
Dieser Gedanke hatte sie ebenfalls eine Weile beschäftigt. Würde sie das Weib überwältigen und der Kemenate entfliehen können?
Sicher, sie war kräftig, hatte als Kind oft mit ihrem Bruder und dessen Kameraden gerauft. Sie könnte mit dem Kerzenleuchter herzhaft zuschlagen oder mit einer Scherbe des Tonkrugs Duretta schmerzhafte Wunden zufügen. Aber dann? Sie kannte die Burg nicht, wusste nicht, wie viele Menschen hier wohnten und wo die Ausgänge waren. Möglicherweise fand sie sich schnell in einem finsteren Kerker wieder.
Nachdem sie alle Möglichkeiten durchdacht hatte, kehrten die Fragen zurück.
Wer hatte sie entführt und warum?
Was hatte man mit ihr vor?
Hatte man schon eine Lösegeldforderung gestellt?
Wie ein Pferd in einem Göpel zogen diese Fragen immerwährend im Kreis herum.
Und sie selbst wanderte ebenso unermüdlich um das Bett herum.
Hunger nagte an ihrem Magen, Ungeduld an ihrem Gemüt.
Dann wurde es wieder Nacht, und diesmal waren ihre Träume weder bunt noch lustvoll. Sie waren voller Fratzen und Dämonen, die ihre Klauen nach ihr ausstreckten. Ruhelos wälzte sie sich hin und her, suchte vergeblich Trost in all den ihr bekannten Gebeten und fand schließlich ein wenig Ruhe, als sie sich das graubärtige Gesicht ihres Vaters vorstellte.
Ivo vom Spiegel würde alles daransetzen, seine Tochter zu finden.
Ivo vom Spiegel, den sie und Marian heimlich den Allmächtigen nannten, würde ganz Köln umkrempeln, und irgendwo hatten ihre Entführer Spuren hinterlassen. Wenn Marian und John zurückgekommen waren, würden sie jeden Stein umdrehen.
Der nächste Tag brach an, und wieder wurde sie der Einsamkeit und dem Hunger überlassen. Sie verbrachte die Zeit damit, aus dem Fenster zu schauen und die Bauern auf den Äckern zu beobachten. Dann memorierte sie die Sprüche ihres verehrten Dichters Freigedank und fand einen kleinen Trost in seinen weisen Worten.
Einer seiner Verse nistete sich bei ihr ein, und sie wiederholte ihn einige Male.
»Vom Ersten, was im Fasse lag
Behält es immer den Geschmack;
Es lässt gar zu schwer ein Mann,
Was er von Jugend auf getan.«
Es hatte einmal ein dummer Knecht guten Wein in ein Fass gefüllt, in dem zuvor Salzheringe gelagert waren. Ja, der Fischgeschmack hatte sich nicht verloren, auch als sie den Wein mit Kräutern und Gewürzen versetzt hatte.
Wer von ihren Bekannten war Wein im falschen Fass?
Wer hatte sie einst beneidet, wen hatte sie wütend gemacht, wer hatte sich von ihr herabgesetzt gefühlt und seine kalte Rache nun genommen?
Luitgard.
Sie hatte sich ungerecht behandelt gefühlt, als Alyss sie damals des Hauses verwiesen hatte. Und nun war sie ertrunken. Nachdem sie angeblich bei ihr vorsprechen wollte. Ihren Mann, den Winzer Franz, kannte Alyss nicht. Aber wahrscheinlich hatte Luitgard ihm von ihr erzählt.
Gab er ihr die Schuld am Tod seines Weibes? Kannte er die Herren dieser Burg, in die man sie verschleppt hatte?
Wieder trotteten ihre Gedanken im Kreis herum, doch dann hörte sie den Türriegel scharren. Augenblicklich erinnerte sie sich daran, dass sie Benommenheit vorspielen musste. Darum schloss sie eilig das Fensterflügelchen und ließ sich auf die Bank sinken.
Duretta trat ein, einen Korb mit Gebäck und eine Kanne mit Wein in der Hand.
»Ach, Alyss, Liebes, Ihr seid aufgestanden«, säuselte das Weib.
Unsäglich langsam hob Alyss den Kopf und schaute träge zu ihr hin.
»Kalt hier«, nuschelte sie und zog die Decke fester um sich. »Meine Kleider. Wo sin meine eigenen Kleider?«
»Ach, das hässliche Gewand«, sagte Duretta und füllte den Weinkrug. »Trinkt, dann wird Euch warm.«
Alyss nahm den Becher, hob ihn an die Lippen, trank aber nicht von dem roten Wein darin.
»Kleider. War’n nicht schlecht. Und Gürtel.«
»Nein, die waren schlecht. Das hier ist viel hübscher. Die anderen hat die Wasserleiche getragen, die sie gestern aus dem Rhein gefischt haben. Man wird Euch ein hübsches Begräbnis ausrichten, habe ich gehört. Kommt, esst, Liebelein. Ihr müsst hungrig sein.«
»Begräbnis? Warum Begräbnis?«
»Ach, macht Euch keine Sorgen darum. Hier sind süße Wecken, die mögt Ihr doch gerne.«
»Möchte mich waschen«, nuschelte Alyss wieder und zerrte an ihren zerzausten Haaren. Sie wollte nicht in Durettas Gegenwart essen, auch wenn ihr Magen verlangend knurrte.
»Später. Später waschen wir Euch und ziehen ein frisches Hemd an. Nun esst, Liebschen.«
Es blieb ihr nichts anderes übrig,
Weitere Kostenlose Bücher