Das Lied des Falken: Historischer Roman (German Edition)
hatten.
Doch nicht nur er konnte die Lebenskraft seiner Schwester fühlen. Auch sie hatte ihm gestanden, dass sie die Todesnähe gespürt hatte, als man ihn vor drei Jahren auf dem Rückweg von Spanien überfallen hatte. Schwer verwundet hatte er überlebt, aber für eine Weile hatte er an der Schwelle des Todes gestanden.
Wieder wälzte Marian sich auf die andere Seite und knetete das Polster zurecht.
Nein, in Lebensgefahr befand Alyss sich nicht.
Wenigstens etwas.
Aber wenn sie lebte, warum hielt man sie fest, und warum gab es keine Lösegeldforderung?
Was wollte man von ihr?
Ließ man sie leiden für etwas, von dem man glaubte, dass sie es getan hatte?
Irgendwann stand er auf und wanderte ruhelos in seinem Zimmer auf und ab. Die Wachen, die Beginen, die »Goldgräber«, die die Sickergruben leerten, die Marktaufseher und Zöllner, die Nachtwächter, die Päckelchesträger und Gassenjungen, sie alle suchten nach ihr oder nach Spuren, doch nichts hatte bisher Erfolg gehabt. Auch Gislindis hatte sich noch nicht gemeldet.
Wo versteckte man eine Frau wie Alyss?
Er stieß den Fensterladen auf und schaute in die wolkenverhangene Nacht hinaus.
Gislindis verdächtigte Merten.
Er sollte auf sie hören.
Und die mögliche Verknüpfung zwischen dem Friesen Yskalt, jenem Constantin vamme Thurme und Merten herstellen. So absurd das auch erscheinen mochte.
Irgendjemand handelte hier aber absurd.
Frau Almut hatte augenscheinlich auch wieder eine unruhige Nacht gehabt, und sein Vater Ivo hatte sich brummig in sein Kontor verzogen.
»Frau Mutter, begleitet mich zum ›Adler‹. Ich denke, wir müssen Frau Franziska und dem Schmied ein paar Fragen stellen.«
Sie nahm einen Löffel Morgenbrei, beäugte ihn und legte ihn zurück in die Schüssel.
»Du hast über etwas nachgedacht?«
»Ja, es ist vielleicht eine Möglichkeit, Zusammenhänge zu klären.«
»Franziska hat eine böse Zunge, und die Hellste ist sie nicht. Sie hat Alyss schon einmal in den üblen Verdacht gebracht, Arndts Tod geplant zu haben. Dieses Huhn mit ihr habe ich noch nicht ganz zu Ende gerupft. Gehen wir.«
»Esst zunächst, Frau Mutter. Ihr braucht Eure Kraft.«
»Es schmeckt mir aber nicht.«
»Mir auch nicht. Trotzdem.«
»Ein medizinischer Rat?«
Sie versuchte sich an einem Lächeln und nahm ein paar Löffel voll Brei zu sich.
Danach machten sie sich auf den Weg zu Gasthaus und Schmiede an der Straße zum Eigelstein.
Aus der Schmiede erklangen raue Männerstimmen und das Klingen des Hammers auf Metall. Ein winziges, schmutziges Geschöpf fütterte eine Schar Hühner, eine dralle, hochschwangere Frau wusch Becher am Brunnen aus und blickte auf, als Marian mit seiner Mutter neben sie trat.
»Stina, ist die Wirtin zugegen?«
»Ich grüße Euch, Frau Almut, Herr Marian. Mama hat Grut angesetzt. Ihr findet sie in der Braustube.«
Frau Franziska schien weiter geschrumpft zu sein, so kam es Marian vor. Die Adlerwirtin, etwa gleichaltrig mit seiner Mutter, war ein mageres Weib, deren graue Flechten wirr unter dem Tuch hervorquollen. Sie schimpfte wütend vor sich hin, während sie in einer großen, flachen Pfanne die siedende Würze umrührte.
»Was verursacht Euren Zorn, Frau Franziska? Ist der Gagel angebrannt, sind die Bilsen ausgegangen, die Maische sauer geworden?«
»Huh!«, quiekte die Wirtin auf und hob drohend den Rührlöffel. »Huh!«, zwitscherte sie dann aufgeregt, »Ihr seid es nur.«
»Hattet Ihr jemand anderen erwartet, Adlerwirtin?«, fragte Marian, und Frau Almut nahm Franziska den tropfenden Löffel ab, um selbst in der Würze zu rühren.
»Riecht gut, wird ein ordentliches Bier.«
»Würd’s werden, wenn der Björn nicht schon wieder ein Zaubermittel reingeworfen hätte. Da, fischt es raus!«
Frau Almut hob den Löffel, an dem ein haariger Beutel hing.
»Was ist darin?«
»Das wollt Ihr lieber nicht wissen.«
Frau Franziska schürte das Feuer unter der Pfanne, sodass die Grut zu blubbern begann. Dann wandte sie sich ihren Besuchern zu.
»Kann Euch heute keinen Wein anbieten. Die Weinhändlerin ist säumig«, knurrte sie.
»Das ist sie, Frau Franziska. Und darum sind wir hier.«
»Ach, nett. Ihr bringt mir von Eurem Wein, Frau Almut? Den schweren, dunklen, ja?«
»Vielleicht, aber erst einmal brauchen wir Eure Hilfe, Franziska.«
Die Adlerwirtin beäugte sie beide kritisch, und Marian vermeinte, das schlechte Gewissen hinter ihrer Stirn arbeiten zu sehen. Sicher, seine Mutter grollte noch mit ihr, aber es
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