Das Lied des Falken: Historischer Roman (German Edition)
verhökern? Vermutlich war es Merten gewesen, der davon berichtet hatte, denn er kannte viele wohlhabende Familien, und möglicherweise verkaufte er ein solches Wissen für teures Geld.
Für einen kleinen Augenblick nahm die Idee in Alyss Gestalt an, dass Merten selbst sich als ihr zukünftiger Gatte sah. Doch dann verwarf sie diesen Gedanken wieder. Ehe und Merten passten nicht zusammen, abgesehen davon hatte sie ihm nichts zu bieten. Ihr Weinhandel deckte eben die Haushaltskosten, Haus und Hof hatten zwar einen gewissen Wert, stellten aber auch das Heim dar, in dem sie lebte. Ihr Brautschatz gehörte ihr, und das Wenige an Schmuck, das sie besaß, war kein Anreiz für einen Verschwender wie ihn. Sie verwarf den Gedanken.
Außerdem – sie befand sich in einer Burg. In welcher, das musste sie unbedingt herausfinden. War es der Burgherr selbst, der sie zum Weib begehrte?
War es jemand, von dem ihr Vater gewiss nicht wollte, dass sie ihn ehelichte, ein Feind gar des Herrn vom Spiegel?
War er ein unansehnlicher Krüppel oder – schlimmer noch – der verunstaltete Sohn des Burgherrn? Die Fratze des Wasserspeiers wurde vor ihren Augen lebendig, und es schauderte sie.
Immer mehr vermutete sie, dass es jemand sein konnte, der von ihrer und Johns Neigung wusste und diese Ehe verhindern wollte.
Wer, wer lauerte seit Langem im Dunkeln, so wie Gislindis es gesagt hatte? Wer war der Wein im falschen Fass, wie die Worte des Dichters Freigedank sie gemahnt hatten?
Auf keine der Fragen fand Alyss eine Antwort, und so wandte sie sich von diesen ab und anderen zu.
Wie konnte sie mehr herausfinden über die Burg, Duretta und ihre Entführer?
Sie steckte die Flechtarbeit unter das Polster und trat in die Fensternische. Licht brach sich in den runden Butzenscheiben und warf bunte Ringe auf den Holzboden. Sie öffnete das Fensterflügelchen und blickte über die Felder. Hell schien die Sonne, klar erkannte sie die Konturen der Hecken und Katen. Und weiter draußen erblickte sie heute das silberne Band des Rheins.
Wie weit mochte es sein? Als man sie vor zwei Wochen hergeschleppt hatte, war ihr der Weg endlos erschienen. Doch vermutlich befand sie sich kaum eine Wegstunde von der Stelle entfernt, an der der Nachen angelandet war und man sie auf den Pferderücken gehievt hatte.
Die Sonne wanderte nach Süden, der Schatten des Turmes fiel vor ihr auf den Graben und einen daran sich anschließenden Weingarten. Ihr Blick ging also nach Norden, eher nach Nordwesten. Dort konnte man in der Ferne auch den Turm einer kleinen Kirche erkennen, doch das gegenüberliegende Ufer schien keine Bebauung zu haben. Also befand sie sich auch nördlich der Dombaustelle, denn die Kathedrale, wenn auch noch lange nicht fertig gebaut, erhob sich doch schon weit über die Häuser von Köln.
Nicht Deutz also, sondern nördlich davon.
Sie wusste so wenig über die Welt, gestand Alyss sich ein. Sie kannte die Straßen von Köln und den Weg nach Villip entlang des Rheins, sie war einige Male in Deutz gewesen und einmal in Lohmar, doch das lag viel weiter im Süden.
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihren Blick zu erweitern, doch das Fensterchen war zu klein, um ihr einen passenden Ausschnitt der Welt zu präsentieren. Dafür aber blieb ihr Blick an einem dunklen Umriss am Himmel hoch oben hängen. Unbeweglich schien er über einem Punkt zu verharren, dann stürzte er plötzlich nieder, fing sich kurz über einer Hecke ab und stieg wieder auf.
Ein Falke auf der Jagd.
Wehmut und Sehnsucht erfüllten ihr Herz.
Der Falke – sollte sie es als Omen nehmen?
Falken waren kluge Jäger, sie beobachteten mit scharfen Augen ihre Beute. Ihr Angriff erfolgte blitzschnell, ihre Krallen packten zu, ihre harten Schnäbel töteten.
»Beobachtest du deine Beute, John?«, fragte Alyss leise den Wind.
Wenn er zurückgekommen war, wie er geplant hatte, dann würde er sie suchen.
Was konnte sie tun, damit er sie fand?
Sie musste Duretta überlisten. Sie glauben lassen, dass sie ihr glaubte und – gegen ein gewisses Aufbegehren hin – allmählich in das einwilligte, was sie von ihr erwartete.
Sollten sie sie zu einer Eheschließung zwingen, dann würden sie feststellen, dass Krallen und harte Schnäbel nicht nur die Falken besaßen.
Und damit begann Alyss, eine Geschichte zu dichten.
23. Kapitel
F rau Almut hatte darauf bestanden, dass Gislindis noch einen weiteren Tag das Bett hüten sollte, um ihre Verletzungen auszukurieren. Ihr Vater Mats war da
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