Das Lied des Falken: Historischer Roman (German Edition)
dass böse Geister durch den Kamin kommen würden, da Alyss nach Weihnachten die Laken hatte waschen lassen. Gislindis hingegen hatte einmal eine Weile in die lodernden Flammen gestarrt, und als Alyss sie sacht an der Schulter berührte, hatte sie leise geseufzt.
»Geht es ihm gut?«, hatte sie in das Ohr der Schlyfferstochter geflüstert.
»Ja. Ein Zitronenbaum wächst unter seinem Fenster.«
»Bedeutet er etwas?«
»Einst tat er das wohl. Er sprach davon, ein solches Bäumchen verpflanzen zu wollen. Nun hat er diesen Ehrgeiz nicht mehr.«
Zufrieden gedachte Alyss ihres Bruders in der Ferne.
Aber dann hatte Hilda wieder ihre düstere Miene aufgesetzt und missmutig den Holzklotz betrachtet, der im Kamin allmählich verglühte. Kurz vor Mitternacht war es aus ihr herausgeplatzt, und sie hatte gefordert, das Scheit aus dem Feuer zu nehmen, um es über das Jahr hin aufzuheben, da ansonsten Unglück über das Haus hereinbrechen würde.
Jan hatte es für sie getan, und seither ruhte das angekohlte Scheit in Hildas Kammer – das Glück und Unglück aber richteten sich nicht nach dem Holz, musste Alyss nun denken. Sonst säße sie nicht in dieser Kemenate und rätselte über die Gründe ihres Hierseins nach.
Es war ihr Vater, der weiteren Unkenrufen ihrer Haushälterin Einhalt geboten hatte. Und das mit einer seiner allmächtigen Reden.
Mit der Verschwendungssucht in ihrem Haus hatte er angefangen – hier zitierte er Moses: »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist.« In gesetzten Worten bemängelte er den fehlenden Schweiß in den Gesichtern der Anwesenden. Anschließend beklagte er die Faulheit und ihre Folgen mit den Worten des Predigers: »Durch Faulheit sinken die Balken, und durch lässige Hände tropft es im Haus.« Dabei sandte er vorwurfsvolle Blicke zur Decke, von der es überhaupt nicht tropfte. Die mieselsüchtigen Worte des Predigers, die Ivo vom Spiegel zu gewaltigen Klagen anregten, ergötzten Alyss und ihre Mutter namenlos, und auch Magister Jakobs dünne Lippen kämpften dagegen an, sich zu einem Lächeln zu verziehen. Als Höhepunkt aber schmähte der Herr den unseligen Zustand seiner verwitweten Tochter und donnerte auf sie herab. »Schon Sirach befahl: ›Verheirate deine Töchter, dann hast du eine schwere Arbeit hinter dir, aber gib sie einem verständigen Mann.‹«
»Ja, Ja, Herr Vater. Und er sagt auch: ›Hast du Töchter, so gib gut auf sie acht und zeige ihnen dein Wohlwollen nicht allzu sehr‹«, hatte Alyss geantwortet. »Ich setze mich also Eurem Grimm aus und werde nicht jammern.«
»Und ich werde noch einmal die schwere Arbeit auf mich nehmen müssen, dich unter die Haube zu bringen, sonst ergeht es mir wie Hiob«, knurrte Ivo vom Spiegel darauf. »›Er wird vom Licht in die Finsternis vertrieben und vom Erdboden verstoßen werden. Er wird keine Kinder haben und keine Enkel unter seinem Volk; es wird ihm keiner übrig bleiben in seinen Wohnungen.‹«
Es hatten sich jedoch feine Fältchen bei dieser Rede um seine Augen gebildet, und sie hatten sich vertieft, als sie ihm mit einem kleinen Lächeln entgegenhielt: »›Fliegt der Falke empor dank deiner Einsicht und breitet seine Flügel aus, dem Süden zu?‹ Auch das fragte Hiob.«
Frau Almut hatte ein Kichern mannhaft unterdrückt und ihrer Tochter anerkennend zugezwinkert.
Ja, es war eine vieldeutige Rede, die ihr Vater gehalten hatte, und sie hatte ihr die Gewissheit gegeben, dass ihre Eltern einer Verbindung mit John of Lynne, dem Falkner, wie ihr Vater ihn gerne nannte, nicht abgeneigt waren.
Aber einige der Anwesenden hatten das aus dieser Botschaft nicht gehört, sondern die Klage eines Vaters über die störrische Tochter darin gesehen, die ihm keine Enkel schenkte.
Und diese falsche Erkenntnis weitergegeben.
Duretta hatte es ganz offensichtlich geglaubt, und nun würde sie vermutlich bald Vorschläge machen, wie man Alyss zu einer neuen Ehe bewegen konnte.
War das der Grund, warum man sie entführt hatte?
Gesetzt den Fall, das war es, und ein Mann – wer auch immer – hegte den Wunsch, sie zu ehelichen, warum hatte er sich dann nicht offen an sie gewandt? War es jemand, der seinen Antrag nicht zu machen wagte, weil sie ihn ablehnen würde?
War es einer, der von ihrer Liebe zu John wusste und die Verbindung stören wollte?
War es einer, der von jener väterlichen Predigt gehört hatte und die Möglichkeit sah, sie an einen Gatten zu
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