Das Lied des Falken: Historischer Roman (German Edition)
auf, als sie zu ihm traten. Ein blutiger Striemen verlief über seine Stirn, die alte Frau hatte ihre Krücke kräftig zu führen gewusst.
Der Schreiber, mager und griesgrämig, stellte sein Pult in der Nähe des schmalen Fensters auf und schnitt seine Feder zurecht.
»Dein Name lautet?«, fragte der Turmmeister, und der Mann grummelte etwas Unverständliches.
»Sprich deutlich.«
»Ulf.«
»Wo wohnst du?«
»Overich.«
»Warum hast du das Haus der Witwe Ketwich betreten?«
»Weiß nich. Kenn ich nicht.«
Das würde zäh werden, stellte Marian fest. Der Kerl log und wollte nichts preisgeben. Wenn er der Diener von Constantin vamme Thurme war, dann würde der möglicherweise weiterhelfen. Aber die Zeit drängte. Magister Jakob versuchte auch mit ein paar Fragen sein Glück, aber der Gefangene blieb maulfaul. Auch die Androhung einer möglichen peinlichen Befragung schien ihn nicht zu schrecken.
Marian betrachtete das Blumenkohlohr.
Wenn es der Knecht war, der geholfen hatte, Alyss zu entführen, dann würde er einiges an Einzelheiten wissen, die vermutlich wichtig für sie waren. Wer hatte ihn angeheuert, mit wem hatte er zusammengearbeitet?
In eine Pause hinein, in der der Schreiber die Fragen hinkritzelte, sagte er leise, aber vernehmlich: »Seitz?«
Der Kopf des Mannes zuckte hoch.
»Notiert, Schreiber, der Kerl hört auf den Namen Seitz.«
Der Gefangene hatte seinen Fehler bemerkt und versuchte, sich herauszuwinden, aber Marian war eine neue Idee gekommen. Er gab dem Turmmeister einen Wink und trat mit ihm auf den Gang.
»Wenn er der Seitz, Knecht von Constantin vamme Thurme ist, wie ich vermute, dann wird der Pfandleiher Ambrosio ihn wiedererkennen. Ich möchte ihn holen lassen. Könnt Ihr zwei Eurer Leute zu ihm schicken?«
»Das kann ich tun. Aber Ambrosio ist ein Frettchen, ich hoffe, er erweist sich als hilfreich.«
»Er wird. Und ich muss auch noch eine Besorgung machen. Könnt Ihr später für uns und den Gefangenen einen Krug Wein besorgen?«
»Wollt Ihr ihn trunken machen, Herr Marian?«
»Die peinliche Befragung scheint ihn nicht zu schrecken, mag sein, dass Güte seine Zunge löst. Oder so …«
Der Turmmeister zuckte mit den Schultern.
»Versucht es. Für den Einbruch bei der Witwe gibt es Zeugen, der Strafe für diese Tat wird er nicht entgehen. Ihr unterstellt ihm größeren Frevel, wenn ich den Notarius richtig verstand. Tut, was Ihr müsst.«
Marian tat, was er musste, und suchte die Apotheke von Trine und Jan auf. Trine, taubstumm, doch im höchsten Maße fähig, sich zu verständigen, begrüßte ihn mit einer Umarmung, und ihre flinken Finger formten die dringende Frage nach Alyss. Jan, ebenfalls ein Meister der Fingersprache, übersetzte ihr Marians kurzen Bericht und seine Bitte.
»Du willst ihn zum Reden bringen, ohne ihm Gewalt anzutun. Wie gütig von dir«, meinte Jan schließlich.
»Ich glaube, er weiß recht gut, was er getan hat, nimmt aber an, dass man ihm nichts nachweisen kann.«
Trine wickelte das Ende ihres honigblonden Zopfes um die Finger und ging dann zu dem Bord, auf dem eine Unzahl von Töpfen und Tiegeln stand. Langsam glitten ihre Augen über die Reihen, dann griff sie zu einer Phiole und zeigte sie Jan. Der nickte.
»Hilft bei Übelkeit und Erbrechen, macht die Augen schön, und ein Tröpfchen zu viel beendet das Leben. Aber dazwischen gibt es eine Dosis, bei der man benommen und willenlos wird und unbedingt reden will. Der Auszug löst sich in allen Flüssigkeiten und schmeckt nach nichts.«
»Wie viel soll ich ihm geben?«
Trine nahm ein weiteres Glasgefäß, füllte etwas Wein hinein und ließ einen einzelnen Tropfen aus der Phiole hineinfallen.
»Er wird durstig werden, zappelig und sich vielleicht auch von Dämonen verfolgt fühlen. Aber er wird reden.«
»Was ist es?«
»Ein Gift, Marian. Lass niemanden merken, dass du es ihm verabreichst.«
»Keine Sorge.«
Auch wenn sie gerne noch mehr erfahren hätten, wie ihre Freunde es anstellen wollten, Alyss zu befreien, ließen Jan und Trine ihn doch gehen. Er versprach ihnen jedoch, so bald wie möglich Nachricht zu geben.
»Signore, Signore, ich bin unschuldig. Ich bin ein ehrbarer Pfandleiher. Warum holt man mich am Tag des Herrn aus meinem Haus? Ich bin kein Verbrecher, ich zahle pünktlich, ich bete aufrichtig, ich glaube an Gott und alle Heiligen!«
Aufgeregt flatterten Ambrosio di Comos Hände im Bemühen, ein frommes Kreuz zu schlagen, als Marian wieder im Turm eintraf. Zwei grimmige
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