Das Lied des Kolibris
zum Weglaufen bekam? Und würde sie es dann geschickter anstellen? Würde sie es überhaupt allein durch die Wildnis bis zum Quilombo schaffen? Zé war äußerst beunruhigt, sagte sich aber, dass die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei der Ausreißerin um Lua gehandelt hatte, nur bei eins zu fünfzig lag, denn es gab rund fünfzig Frauen und Mädchen auf São Fidélio, die alt genug, aber nicht zu alt waren für ein solches Unterfangen. Genau genommen war die Wahrscheinlichkeit noch geringer, da Luas Leidensdruck bei weitem nicht so groß war wie der der Feldsklavinnen.
Und wenn er nun, wie Caca es vorgeschlagen hatte, loszöge, um ihre dürftigen Erzeugnisse – Körbe, Matten, Schnitzwerk – in der nächstgelegenen Ortschaft an den Mann zu bringen? Er würde die Gelegenheit nutzen können, um auch das goldene Herz, das Kasinda ihm geschenkt hatte, zu Geld zu machen. Und er könnte sich nach Luas Verbleib erkundigen. Oder war das zu gewagt? Brachte er damit nicht vielmehr Liberdade in Gefahr, sein kleines Quilombo, das ja noch auf sehr wackligen Füßen stand?
»Ich denke darüber nach«, beschied er Caca und wandte sich abrupt ab, um sich keine weiteren gestotterten Argumente anhören zu müssen. Dabei brauchte er eigentlich nicht mehr nachzudenken – im Grunde hatte er schon entschieden, dass er gehen würde. Die Angst um Lua ließ jede Gefahr nichtig erscheinen.
Zés geplanter Ausflug in die »echte« Welt da draußen wurde mit gemischten Gefühlen aufgenommen. João und Luizinho zeigten unverhohlen ihren Neid, denn allzu gern wären auch sie losgezogen, um noch einmal all die Dinge zu erleben, die ihnen hier nicht vergönnt waren: ein herzhaftes Gericht mit Speck zu essen, ein paar Schnäpse zu trinken oder einen lustigen Abend in großer Runde zu verbringen. Marilu dagegen befürchtete, wenn auch nur irgendeiner von ihnen ginge, bestünde ernsthafte Gefahr für das Leben aller sechs Quilombeiros. Einzig Bebel sah die Notwendigkeit von Zés Reise und fand es richtig, dass er und niemand sonst gehen sollte.
»Zé ist der Gewiefteste von uns allen. Er hat es ganz allein hierhergeschafft, und er wird auch diese Reise allein bestehen. Außerdem bin ich bei ihm sicher, dass er das Geld nicht in Schenken lässt, sondern es für sinnvolle Anschaffungen ausgibt.«
»Sein Liebchen will er besuchen, sonst gar nichts!«, rief João.
»Wenn er in der Nähe von São Fidélio gesehen wird, kriegen sie ihn – und uns mit dazu«, fürchtete Luizinho.
»Uuund dddu wwwärst …«, begann Caca.
»… du wärst dagegen ganz unauffällig, wenn du volltrunken über Liberdade schwadronierst?«, ergänzte Cacas Schwester.
»Wieso glauben eigentlich alle hier, dass ich mich volllaufen lassen würde?«, fragte Luizinho in empörtem Ton.
»Würdest du das nicht?«, kam es spitz von João.
»Hört auf damit! Ich reiße mich nicht darum, zu gehen. Glaubt ihr, ich hätte keine Angst davor, erwischt und totgepeitscht zu werden? Von mir aus soll ein anderer gehen.«
Plötzlich schwiegen alle. Bisher hatten sie nur über die schönen Seiten der Reise nachgedacht, nicht aber über die Risiken. Inhaftiert, an den Pranger gestellt oder sogar zum Tode verurteilt werden, das wollte wohl keiner.
»Na schön«, lenkte Luizinho, immer schon der Nachgiebigere der beiden Männer von Três Marias, ein. »Dann geh doch. Aber denk an uns, bring uns wenigstens Salz und Cachaça mit.«
»Wwwie sssoll …«, wollte Caca seine Bedenken äußern.
»… er das denn alles tragen?«, vervollständigte Marilu die Frage. »Wenn er Metall mitbringen soll, hat er daran schon genug zu schleppen.«
»Eine Kuh wäre gut«, sagte Bebel. »Die könnte alles tragen und uns obendrein mit Milch versorgen.«
»Wohl wahr«, stimmte Zé ihr zu. »Aber ob ich eine Kuh durch den dichten Wald treiben kann? Es würde vielleicht Monate dauern, einen Weg für sie freizuschlagen.«
»Na, dann eben keine Kuh«, meinte Bebel enttäuscht. Sie hatte sich schon auf all die Leckereien gefreut, die sich aus Milch zubereiten ließen.
»Sind also alle einverstanden, dass ich gehe?«, fragte Zé der Vollständigkeit halber. Für ihn war es längst beschlossene Sache.
Die anderen fünf nickten oder murmelten ihr Einverständnis vor sich hin.
»Na dann – machen wir uns ans Werk. Es müssen jede Menge Vorbereitungen getroffen werden.«
Drei Tage später brach Zé auf. Die Frauen hatten seine Kleidung so weit geflickt und gesäubert, dass er damit nicht
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