Das Lied des Kolibris
Allerdings würde ich mir gern erst eine Bleibe suchen, bevor ich meine Ware feilbiete.«
»Für einen Vintém kann ich dir ein Zimmer geben, Waschwasser und Frühstück inbegriffen.«
»Klingt gut«, sagte Zé und meinte es auch so. Er war müde und schmutzig. Sich erst einmal ausruhen und frisch machen zu können wäre sicher das Sinnvollste. »Seid Ihr Pensionswirtin?«
Die Frau lachte schallend. »Sehe ich so aus?« Als sie sich wieder beruhigt hatte, fuhr sie fort: »Nein, ich bin die Witwe Moreira, die Witwe von dem Schuster-José. Darfst mich gerne Mariana nennen.«
»Angenehm,
tia
Mariana, ich bin Zé.«
Er folgte der Frau in ein kleines Häuschen am Stadtrand und wunderte sich über ihre Vertrauensseligkeit. Im Gespräch stellte sich dann heraus, dass Mariana nicht nur in enger Nachbarschaft mit verschiedenen Verehrern lebte, die sich als ihre Beschützer aufspielten, sondern auch einen Hund hatte, der auf sie aufpasste. Sie vermietete manchmal eine winzige Kammer, wenn ihr die Hausgäste ehrbar und ehrlich erschienen. Sie war zwar arm, aber geschäftstüchtig genug, um über die Runden zu kommen. Sie ergatterte oft günstige Waren, zum Beispiel von Leuten wie Zé, die sie dann teurer weiterverkaufte, und sie verdiente sich ein wenig hinzu, indem sie Kuchen buk und an Markttagen verkaufte.
Ihr Wissensdurst war allerdings kaum geringer als ihre Umtriebigkeit, und Zé musste achtgeben, dass er sich nicht verriet.
»Bin ein reisender Händler. Heute hier, morgen dort, wenn Ihr versteht,
tia
Mariana.« Er blieb bei der höflichen Anrede sowie dem »Ihr«, denn als ältere Frau hatte sie auf solche Respektsbezeugungen ein Anrecht.
»Ja, sehr richtig,
tia
Mariana, ich klappere manchmal die Indiostämme ab, denn bei denen kriegt man billige und gute Ware. Die Kerlchen wollen nur ein paar Glasperlen als Bezahlung. Also Eure Hühnersuppe,
tia
Mariana, alle Achtung, vom Allerfeinsten!«
»Oh, eine kluge Frage,
tia
Mariana. Ja, es ist tatsächlich so, dass ich manchmal von Patrouillen angehalten und ausgefragt werde. Aber mal unter uns: Sehe ich so dumm aus,
tia
Mariana, dass ich mich dann in den Städten blicken lassen würde, noch dazu an Markttagen?«
Die Witwe Mariana Moreira ließ sich so leicht nicht täuschen, seine Geschichte wies Lücken auf – allerdings wollte sie diese gar nicht füllen, denn ihr Gast war viel zu attraktiv und charmant, als dass sie ihn so schnell wieder hergegeben hätte. Ihre älteren Verehrer waren herrlich eifersüchtig, obwohl sie ja nicht ernsthaft glauben konnten, ein schöner junger Mann wie Zé würde mit einer Dame fortgeschrittenen Alters wie Mariana etwas anfangen wollen, was über das Verhältnis zwischen Zimmerwirtin und Hausgast hinausging.
Zé blieb geschlagene zwei Wochen. Er genoss die Gesellschaft und die gute Küche der freundlichen Witwe, die auch für ihn wusch. Er verkaufte all seine Waren, die er angeblich bei den Indios erstanden hatte, und er sammelte neue Kraft und neuen Mut für ein Unterfangen, das ungleich schwieriger zu werden drohte.
»Darfst gerne wiederkommen, wenn du mal wieder in der Gegend bist«, verabschiedete ihn Dona Mariana. »Und lass dir nicht allzu lange Zeit damit.« Damit zwinkerte sie ihm neckisch zu, und für einen kurzen Moment erhaschte Zé einen Blick auf die Mariana, die sie vor Jahrzehnten gewesen sein musste: hübsch, kokett und der Schwarm aller jungen Burschen.
»Geb mir Mühe«, sagte er und zwinkerte zurück.
In Gedanken war er jedoch schon weit fort.
28
L ua hob vorsichtig das Brett an und sah sich nach allen Seiten um. Morgen würde sie, gemeinsam mit der Sinhazinha Eulália sowie weiteren drei Sklaven, die die Eltern ihrer Tochter als Mitgift mitgaben, nach Três Marias aufbrechen. Lua wusste nicht, ob sie bis dahin noch einmal die Gelegenheit haben würde, unauffällig ihr Notizbuch sowie ihre paar kleinen Schätze, die sie unter der Bodendiele versteckt hatte, an sich zu nehmen. Besser wäre es, jetzt schon das Wichtigste bei sich zu tragen, denn es stand zu befürchten, dass Dona Ines ihr Gepäck durchsuchen würde. Aber wo sollte sie es verbergen? Die Arbeit verlangte von ihr stete Bewegung, und meistens raffte sie dabei den Rock, um größere Beinfreiheit zu haben. Sie würde ihre Sachen vorerst in dem Versteck lassen müssen.
Und was machte es jetzt schon noch, wenn Dona Ines das Büchlein fand? Gab es eine härtere Strafe als die, sie sie jetzt schon verbüßte? Nur den Tod, und den fürchtete sie
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