Das Lied des Kolibris
inzwischen kaum mehr. Lua nahm ein kümmerliches Frühstück aus trockenen
beijús
zu sich und verließ die Senzala zusammen mit den anderen Arbeiterinnen – den Kopf gesenkt, die Schultern gebeugt, den Geist gebrochen. Denn dass sie auch in dem neuen Zuhause zunächst die Arbeit einer Feldsklavin verrichten würde, daran hatte die Sinhazinha keinen Zweifel gelassen.
»Du hast uns alle sehr enttäuscht, Lua«, hatte Eulália ihr vor einigen Tagen gesagt, wobei sich Lua des Eindrucks nicht hatte erwehren können, dass es sich um eine einstudierte Rede hielt. Die Sinhazinha wirkte nämlich weniger enttäuscht als vielmehr mitfühlend und verständnisvoll. Oder bildete Lua sich das nur ein? »Es tut mir leid, was dir widerfahren ist«, fuhr Eulália fort. »Trotzdem können weder ich noch mein Gemahl solchen Ungehorsam hinnehmen und so tun, als sei nichts passiert. Du wirst also erst einmal mit der schweren Arbeit weitermachen müssen. Aber glaub mir: Sobald Gras über die Sache gewachsen ist, werde ich dafür sorgen, dass du wieder im Haus arbeitest und in meiner Nähe bist. Du fehlst mir nämlich, weißt du.«
Aber wann würde das sein? Wie bald wäre denn Gras über die Sache gewachsen? In einer Woche, einem Monat, einem Jahr? Bei der Vorstellung, ein weiteres Jahr die unwürdigsten Aufgaben erledigen zu müssen, ließ Lua jegliche Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Lebensumstände fahren. Ein Jahr war eine Ewigkeit!
Warum sie ausgerechnet das Büchlein mit der Geschichte Imaculadas als so wertvoll erachtete, dass sie es mitnehmen wollte, kam Lua selbst merkwürdig vor. War denn Trost aus dem trostlosen Leben der Alten zu schöpfen? Oder erhoffte sie sich bei einer neuerlichen Lektüre eine Art Lektion? Immerhin war es Imaculada in scheinbar ausweglosen Situationen immer gelungen, ihren Lebensmut nicht zu verlieren. Eigentlich, dachte Lua, war es schade, dass sie nun nicht mehr erfahren würde, wie es der Alten ergangen war. Denn Imaculada würde nicht mit nach Três Marias kommen.
Einen Vorteil hatte es aber wenigstens, dass sie São Fidélio nun verließ. Auf der Fazenda von Eulálias Bräutigam wusste niemand, was ihr geschehen war, beziehungsweise was ihr eben nicht geschehen war. Denn trotz allen Leugnens hielt sich beharrlich das Gerücht, Lua sei auf ihrer Flucht zu Hurendiensten gezwungen worden, und damit einher ging ein dramatischer Ehrverlust. Als ob die Frauen schuld an ihrem Los wären! Lua war erschüttert über die heuchlerische Logik hinter dieser Haltung, die immer nur die Partei der Männer ergriff. Bei einer Vergewaltigung war selbstverständlich das liederliche Flittchen schuld, während der Täter nur als armes, willenloses Opfer der weiblichen Reize galt. Lua überlegte, ob nicht auch sie sich früher einmal zu dieser Denkweise hatte verführen lassen. Als die gerade zwölfjährige Joaninha schwanger geworden war, hatten sie da nicht alle insgeheim dem frühreifen Früchtchen die Schuld dafür gegeben? Tja, nun bekam Lua die Rechnung dafür serviert. Nun war sie selbst das Opfer übler Nachrede geworden. Dafür verantwortlich war in erster Linie Lulu, der gottlob nicht zu den Sklaven der Sinhá Eulália gehörte, die mit nach Três Marias gingen. Eine Plage weniger, dachte Lua.
Andererseits wusste sie ja auch nicht, was in ihrem neuen Zuhause auf sie zukäme. Während sie sich hier nur der Nachstellungen Lulus sowie der halbherzigen Annäherungsversuche des Senhors hatte erwehren müssen, würde sie dort womöglich Männer antreffen, schwarze wie weiße, die glaubten, sich nach Belieben an der neuen Sklavin gütlich tun zu dürfen. Feldarbeiterinnen mit ihrem niedrigeren Rang in der Hackordnung waren ungleich mehr Übergriffen ausgesetzt als die Haussklavinnen, die oftmals unter dem Schutz ihrer Senhores oder einzelner Familienmitglieder standen. Auch Lua selbst wäre wahrscheinlich schon längst von irgendwelchen Vorarbeitern oder Aufsehern vergewaltigt worden, hätte sie nicht in so engem Kontakt zu der Sinhazinha gelebt. Warum wurde ihr das erst jetzt klar? War sie ihr Leben lang mit Blindheit geschlagen gewesen? Hatte sie nicht sehen wollen, was doch für jedermann offensichtlich gewesen war? Lua schämte sich plötzlich ihrer Borniertheit und ihrer Ignoranz.
Von schweren Zweifeln geplagt war auch Kasinda alias Imaculada. Wie sollte es mit dem Mädchen, das sie zur Hüterin ihrer Geschichte erwählt hatte, weitergehen, wenn es erst fort von São Fidélio wäre? Auf Três Marias
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