Das Lied des Kolibris
handwerkliche Begabung ihres Bruders in den höchsten Tönen gepriesen hatte. Der Mann konnte einfach alles, und was er nicht gelernt hatte, das machte er mit Phantasie und Fleiß wett. Unermüdlich sägte, hobelte und schliff er mit den primitiven Werkzeugen, die er mitgebracht hatte, und mit Feuereifer fertigte er scharf gespitzte Pfeile an oder flocht aus dünnen, lianenähnlichen Pflanzen und Luftwurzeln Köcher, Körbe und Hocker. Wenn sie nur mit Geschick und Erfindungsreichtum verbunden war, konnte ihm keine Tätigkeit zu banal oder zu weibisch sein. Er experimentierte mit den Früchten des Waldes so lange herum, bis er herausfand, dass einige wunderbar als Färbemittel taugten. All ihre fleckigen Kleidungsstücke wurden eingefärbt, und das Ergebnis war nicht nur, dass die Flecke nicht mehr sichtbar waren, sondern dass ihrer aller Laune sich merklich hob. In leuchtendem Rot und Grün liefen sie nun herum, was ungleich freundlicher aussah als die ewigen Braun- und Grautöne.
Die erste Trommel, die sich wegen des zu feuchten Holzes verzogen hatte, wurde von allen Bewohnern der winzigen Siedlung in Ehren gehalten. Fast wurde sie so etwas wie ein Fetisch, das Symbol für den Anbruch einer neuen, optimistischeren, freundlicheren Zeit in »Liberdade«, in Freiheit. Mittlerweile war es Caca längst gelungen, aus den getrockneten Schalen riesenhafter Früchte, aus Holz und aus Rindenfasern weitere Instrumente zu fertigen. Er hatte mehrere Pfeifen aus Holz geschnitzt und hatte mit Pflanzensamen gefüllte Rasseln hergestellt, so dass jetzt allabendlich ein munteres, misstönendes, dafür aber umso fröhlicheres Konzert zu vernehmen war.
Auch ihre Behausungen waren deutlich wohnlicher geworden, seit der vermeintlich zurückgebliebene junge Mann sich ihrer angenommen hatte. Es gab jetzt in jeder Hütte Teppiche aus Tierfellen, bequeme Matratzen aus Blättergeflecht, das mit Federn gefüllt war, ein paar einfache Möbel aus Holz und Flechtwerk sowie bunt eingefärbte Matten, die an den Fensteröffnungen herabgelassen werden konnten und die vor unerwünschten Blicken ebenso schützten wie vor Mücken.
Dennoch konnte auch Caca nicht zaubern. »Iiiich bbbrauche Eeeisen, dddamit …«, wollte er erklären, aber Zé ließ ihn nicht ausreden.
»Ich weiß. Wenn du Waffen schmieden sollst, Werkzeuge und Nägel, dann brauchen wir Metall. Aber dazu müsste sich einer von uns auf den Weg in die nächste von Weißen bewohnte Ortschaft machen – und wer sollte das sein? Wir alle werden gesucht.«
»Dddu.« Caca schaute Zé auffordernd an, als wolle er sagen: Na los, sprich für mich weiter, du hast doch sonst auch nie die Geduld, mich ausreden zu lassen, und glaubst schon im Voraus zu wissen, was ich sagen will.
»Ich bin an den Narben auf meinem Rücken ziemlich gut als geflohener Sklave zu erkennen.«
»Aaaber Jjjoão …«
»João würde sich betrinken und womöglich nie wieder zurückkehren, das ist wahr. Luizinho würde sich beim Verkauf unserer wenigen Erzeugnisse übers Ohr hauen lassen und mit leeren Händen wiederkommen. Und du bist an deinem Gestottere ebenfalls zu leicht zu erkennen. Blieben noch die Frauen. Aber allein würde ich keine von beiden gerne gehen lassen, und wenn sie zu zweit gingen, hätten wir hier niemanden mehr, der für uns waschen und kochen würde.«
»Gggenau. Dddeshalb mmusst dddu ggehen.«
»Ich weiß nicht. Würdet ihr denn hier ohne mich klarkommen?«
Caca nickte bedächtig, als hegte er daran gewisse Zweifel. Selbstverständlich würden sie prima eine Weile auf Zé verzichten können, nur durfte er keinesfalls allzu enthusiastisch wirken, um Zé nicht zu beleidigen.
Zé dachte über den Vorschlag nach. Dass er der Fähigste von ihnen allen für diese Aufgabe war, wusste er. Auch war es nicht Mangel an Mut oder Entschlussfreude, der ihn zögern ließ. Es war vielmehr so, dass er gerne die Stellung gehalten hätte, weil er insgeheim auf eine ganz bestimmte Person wartete. Was wäre, wenn Lua schließlich doch noch kam – und ihn nicht antreffen würde?
Die Nachricht, die Caca und Bebel bei ihrer Ankunft überbracht hatten, dass nämlich eine Sklavin von São Fidélio geflohen und wieder geschnappt worden war, ließ ihm keine Ruhe. Wenn es sich nun wirklich um Lua gehandelt hatte? Würde man sie so schwer bestrafen, dass ihr Lebenswille brach, oder würde sie einen weiteren Fluchtversuch wagen? Würde man in ihrer Bewachung mit der Zeit nachlassen, so dass sie eine neuerliche Chance
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