Das Lied des Kolibris
Erste Obdach gewähren. Sobald Luas Angst und Aufregung ein wenig abgeflaut wären, würden sie die Reise nach Liberdade antreten. Zé freute sich unbändig.
Es kam dann zwar nicht ganz so, wie er es vorhergesehen hatte, aber doch auch nicht sehr viel anders. Als er dem Kutscher in den Oberschenkel schoss, um den »Überfall« so glaubhaft wie möglich aussehen zu lassen, hatte Lua ihn angeschrien: »Du Unmensch! Hör auf damit!«
»Es wird sein Leben retten«, hatte er kühl geantwortet. Für die Rücksichtnahme auf weibliche Befindlichkeiten hatte er jetzt keinerlei Sinn. Es fiel ihm ja selbst nicht leicht, dem freundlichen José Schmerzen zuzufügen. Tat er es jedoch nicht, würden den Mann weitaus schlimmere Qualen erwarten, denn man würde ihn der Beihilfe zur Flucht bezichtigen.
Auch der Kauf einer Kuh und eines Stiers – denn ein Pärchen würde ihnen mehr nützen als ein einzelner Ochse – verlief nicht ganz so, wie er es sich gewünscht hätte. Sein Geld reichte nicht, und erst nach zähen Verhandlungen, während deren Lua nervös von einem Fuß auf den anderen hoppelte und sie beide irgendwie verdächtig wirken ließ, konnte er ein dürres Gespann erwerben.
Die Aufnahme bei Dona Mariana war ebenfalls nicht ganz so herzlich, wie er es sich ausgemalt hatte. Vielleicht missbilligte sie die junge Frau in seiner Gesellschaft, die so wortkarg war, dass es an Unhöflichkeit grenzte, und so appetitlos, dass es die Kochkünste Marianas beleidigte.
»Das ist Lua, meine Frau«, stellte Zé die junge Frau der älteren vor, und da erst taute Lua aus ihrer Starre auf. Sie blickte Zé nachdenklich an und war sich gar nicht sicher, ob sie denn überhaupt die Ehefrau dieses Mannes sein wollte. Natürlich liebte sie ihn, und ja, die Liebesnacht mit ihm war von berauschender Sinnlichkeit gewesen. Dennoch besaß sie Verstand genug, um zu ahnen, dass ein Leben an der Seite eines Rebellen und Freiheitskämpfers womöglich nicht das war, was sie sich erhoffte. Aber durfte sie denn überhaupt noch auf etwas Besseres hoffen? Sie konnte ja froh sein, wenn sie überhaupt mit dem Leben davonkam. Und an der Seite des Mannes zu leben, der sie wie kein anderer beschützte und begehrte, war mehr, als sie verlangen konnte.
Dona Mariana war froh, als die beiden nach zwei Tagen abreisten. Sie hatte die junge Frau nicht gemocht und fand, dass Zé mit ihr keine gute Wahl getroffen hatte. Eine Zimperliese war an seiner Seite am falschen Platz. Aber was ging es sie an? Sie packte den beiden einen Proviantkorb ein, wünschte ihnen alles Gute und hoffte, dass sie sie so bald nicht wiedersehen musste.
Zé und Lua benötigten mehrere Tage, bis sie die dichter besiedelten Gebiete – und damit die Gefahr der Entlarvung – hinter sich gelassen hatten. Doch im unwegsamen Gelände lauerten andere Unbilden. Die beiden Rinder, die sie erworben hatten, ließen sich nur unter großer Mühe durch den Wald treiben, und schon nach kurzer Zeit war Zés Machete, mit der er den Weg freischlug, stumpf. Sobald die Dunkelheit hereinbrach, rasteten Zé und Lua im Freien, denn den Ochsenkarren hatten sie in der letzten Ortschaft gegen ein paar rostige Werkzeuge eingetauscht. Nach Zärtlichkeiten stand ihnen dann nicht der Sinn. Vollkommen erschöpft schliefen sie auf der Stelle ein.
Lua hatte, lange bevor sie Liberdade überhaupt erreichten, schon genug vom Wald und seinen Tieren. Ihr Ekel vor Insekten verstärkte sich sogar noch, anstatt durch Gewöhnung abzuflauen. Einmal schlug Lua so hysterisch um sich, weil sie einen dicken Käfer vertreiben wollte, dass Zé ihr eine Ohrfeige verpassen musste, um sie wieder zur Vernunft zu bringen.
Sie sprachen daraufhin noch weniger miteinander als zuvor. Verbissen kämpften sie sich weiter durch den Wald, und je weniger sie redeten, desto mehr wuchs ihr Ärger über einander.
Lua kam nicht darüber hinweg, dass Zé ihr eine Ohrfeige gegeben hatte, wo sie doch Zuspruch und Mitleid verdient gehabt hätte. Zé hingegen konnte nicht fassen, was für eine verwöhnte und verweichlichte Frau er mit sich schleppte, eine Lua, die er ganz anders eingeschätzt hatte. Er fragte sich, ob sie es wert gewesen war, dass er für sie sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte. Sie würde in Liberdade gewiss keine große Hilfe sein, sondern vielmehr allen zur Last fallen.
Er betrachtete sie manchmal heimlich aus dem Augenwinkel und konnte nicht umhin, sie noch immer hinreißend zu finden. Sie war schmutzig und zerlumpt, aus ihrer Miene
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