Das Lied des Kolibris
wandern.«
»Liberdade?«
»So haben wir unser kleines Quilombo genannt.«
»Es ist dir also tatsächlich geglückt? Und es gibt noch mehr Leute dort?«
»Ja. Geh jetzt langsamer, sonst fallen wir auf.«
Sie waren mittlerweile in der Nähe des Kutscherhauses angelangt. An Erwachsenen war niemand zu sehen, aber ein paar Kinder spielten dort. Sie waren vollauf damit beschäftigt, schreiend hinter einer kleinen Schlange herzujagen, die sich durch den Staub wand und die sie mit Stöckchen und Ästen traktierten. Zé schob Lua schnell in das Gebäude, das ein besserer Schuppen war und einzig dem Zweck diente, die Familienkutsche zu beherbergen.
Der Kutscher hielt ein Nickerchen. Zé weckte ihn mit einem Tritt in die Seite auf. »An die Arbeit, altes Haus!«
Erschrocken rappelte der ältere Mann sich auf. »Zé? Bist du’s? Was … wie … oh mein Gott, ich bin geliefert!«
»Bist du nicht. Du spannst jetzt die Pferde vor, dann fährst du uns beide nach Salvador.«
»Oh, nein, das tue ich bestimmt nicht!«
»Oh, doch.« Zé zückte eine Pistole und hielt sie dem Alten an die Brust. Die Waffe hatte er von dem Gewinn erstanden, den er dank Dona Mariana und des Verkaufs des Goldanhängers hatte einstreichen können.
»Lua, Mädchen, willst du etwa mit diesem gemeinen Verbrecher durchbrennen? Tu es nicht!«
»Doch.« Ihr Ton war trotziger, als sie es beabsichtigt hatte, denn der alte Kutscher war ein feiner Kerl und immer freundlich zu ihr gewesen, selbst in den vergangenen Wochen noch, als alle sich von ihr abgewendet hatten. »Was habe ich schon noch zu verlieren?«
»Dein Leben, Kind!«
»Schluss damit!«, schaltete Zé sich ein. »Kein Herumgerede. Du fährst uns, und zwar ein bisschen dalli. Wir werden es dann so aussehen lassen, als hätten wir dir Gewalt antun müssen. Dir wird nichts geschehen.«
Der Kutscher fügte sich stirnrunzelnd in sein Schicksal. Er hatte geahnt, dass die Umtriebe Imaculadas zu nichts Gutem führen würden. Aber er hatte nicht die Kraft besessen, sich gegen ihre Wünsche aufzulehnen. Er liebte sie schon lange, und wenn sie Botschaften nach Três Marias übermitteln oder gar persönlich jemandem auf einer anderen Fazenda einen Besuch abstatten wollte, dann hatte er sich immer bereit erklärt, ihr Handlanger zu sein. Und mit welchem Ergebnis? Die jungen Leute riskierten Kopf und Kragen, und Imaculada war so abweisend wie am ersten Tag.
Kurze Zeit später fuhren sie los. Weder vom Senhor noch von der Einfältigen war etwas zu sehen, und die wenigen Menschen, die sich am helllichten Tag in der Nähe des Herrenhauses herumtrieben, wunderten sich nicht besonders darüber, dass der alte José mit der Kutsche davonfuhr. Er hatte oft Aufträge für seinen Senhor zu erledigen oder Botenfahrten für die Senhora zu machen, die ihrerseits gerade in ihrem kühlen Nordzimmer eine Siesta hielt.
Lua wagte es weder, aus dem Fenster des Gefährts zu sehen, noch Zé anzuschauen. Sie stierte auf einen Punkt am Boden der Kutsche und war sich nur allzu deutlich ihrer völlig unzulänglichen Aufmachung bewusst. Sowohl in der Stadt als auch im Dschungel würde sie mit ihrem groben Leinenrock und der schmutzigen Bluse auffallen. Sie trug keine Haube, keine Schürze und keinen Schmuck, denn alles Zubehör war bei der harten Arbeit in der Wäscherei hinderlich. Sie war außerdem der Überzeugung, dass nicht nur ihr Aussehen, sondern auch ihr Benehmen sie verraten würde. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man sie ergriff – und dann im besten Fall zum Tod durch den Strang verurteilte. Wenn Dom Felipe sehr erzürnt war, mochte es auch passieren, dass sie öffentlich ausgepeitscht wurde.
Lua saß still neben Zé. Tränen rannen über ihre Wangen. Zé wollte den Arm um sie legen, doch sie rückte von ihm ab und gab ihm zu verstehen, dass sie für sich allein bleiben wollte. Zé war selbst nicht frei von Angst, und eine überstürzte Flucht wie diese hatte er gewiss nicht im Sinn gehabt, als er sich nach São Fidélio geschlichen hatte. Aber hätte er zusehen sollen, wie Felipe Lua vergewaltigte? Nun war es eben anders gekommen als geplant, und vielleicht war es gar nicht das Schlechteste. In einem Vorort von Salvador würden sie José und seine Kutsche zurücklassen, um sich dort einen Ochsen, oder besser eine Milchkuh, samt Karren zu besorgen. Darauf würden sie aussehen wie ein braves Paar freier Schwarzer. Sie würden vollkommen unbehelligt zu Dona Mariana gelangen, und diese würde ihnen fürs
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