Das Lied des Kolibris
»Familienmitglieds« vermisst hatte.
»Das hier ist Lua«, stellte er seine Gefährtin vor. »Und das sind Caca, João, Luizinho und Marilu.«
»Sehr erfreut«, sagte Lua. Etwas anderes fiel ihr nicht ein. Sie merkte selbst, wie steif und förmlich sie klang, aber sie brachte es beim besten Willen nicht fertig, diese Bande verwahrloster Feldsklaven herzlicher zu begrüßen.
»Ist das dein Liebchen?«, wollte Luizinho von Zé wissen, doch der antwortete nur mit einem Achselzucken.
»Ich bin seine Frau«, sagte Lua mit fester Stimme. Bei all diesen verwilderten Kerlen war es vielleicht doch besser, sich als verheiratete Frau auszugeben.
Bebel blickte die Neue mit gerunzelter Stirn an. Was für eine merkwürdige Person! War sie nun Zés Frau oder nicht? Was ging hier vor sich? Und konnte es wirklich wahr sein, dass ein so schmucker Kerl wie Zé sich mit einem derartig gezierten Dämchen einließ, das obendrein viel zu schmal und zart aussah, als dass man sie für eine gute Arbeiterin, geschweige denn für eine zukünftige Mutter zahlreicher Kinder halten konnte? Was fand er bloß an ihr?
»So ein Pech«, sagte João, »hättest mir gefallen können, wenn ein bisschen mehr an dir dran wär.«
»Gut, dass du es ansprichst«, sagte Lua kühl. »Bietet ihr Gästen auch was zu essen an in eurem feinen Liberdade?«
Alle sechs starrten Lua feindselig an. Was erdreistete sie sich, in so abfälligem Ton über ihr Quilombo zu reden? Und wie kam sie dazu, sich als Gast zu bezeichnen? Wollte sie gleich wieder fort? Marilu war die Erste, die sich fasste. Natürlich hatte das Mädchen Hunger, bei ihnen allen war es nach der langen Flucht doch genauso gewesen. »Komm mit mir, Lua. Ich geb dir ein sauberes Kleid von mir und zeige dir, wo du dich waschen kannst. Danach gibt es ein kleines Festmahl zu eurem Empfang.«
»Was ist das überhaupt für ein Name – Lua?«, hörten sie im Fortgehen Bebel murmeln. »Kommt wohl von ›mondsüchtig‹ oder was?«
Hier nun fiel alle Selbstbeherrschung von Lua ab. Kaum war sie mit Marilu außer Sichtweite der anderen, brach sie in unkontrolliertes Schluchzen aus. Sie war müde. Sie fühlte sich wie erschlagen. Sie war hungrig. Vor allem aber hatten die letzten Wochen ihr mehr zugesetzt, als sie vor sich selbst zugab. Erst die misslungene Flucht, dann die Erlebnisse in Salvador sowie die anschließende Bestrafung auf São Fidélio, dann die zweite Flucht mit all ihren Entbehrungen und dem zermürbenden Schweigen zwischen ihr und Zé – das alles hatte an ihr gezehrt. Dass die Rettung nun in einem armseligen Hüttendorf im Dschungel liegen sollte, in dem ein paar verlauste Feldsklaven hausten, das war zu viel. Ihre Enttäuschung war so groß, die Ernüchterung so schmerzhaft, dass sie sich am liebsten in den Uferschlamm geworfen und hemmungslos heulend dort liegen geblieben wäre. Noch schlimmer war, dass Marilu sich so verständnisvoll gab. »Scht«, sagte sie zu Lua, als sei diese ein kleines Kind, »das wird schon wieder.«
Bei diesen Worten brachen erst recht alle Dämme. Einfacher wäre es, dachte Lua, wenn auch Marilu sich abweisend gäbe und ihren Weinkrampf einfach ignorieren würde. So jedoch schluchzte und flennte sie erbarmungswürdig, so sehr, dass sie sich verschluckte und kein Wort mehr hervorbringen konnte. Erst als sie sich vorsichtig in den Fluss vorwagte und das kühle Nass ihre Beine umspülte, kam sie allmählich wieder zur Besinnung.
»Zieh dich ganz aus. Hier ist außer mir niemand, der dir zuschaut. Du brauchst keine Angst zu haben, es gibt hier keine Krokodile oder andere garstige Tiere. Und wenn du dich erfrischt hast, ziehst du das hier an«, sagte Marilu in aufmunterndem Ton und zeigte Lua ein Kleid, das noch grässlicher aussah als das, welches sie trug. Es war ein besserer Sack, der, als sei er nicht so schon schlimm genug, in einem leuchtenden Rot gefärbt war.
»Dann isst du erst mal was, und dann legst du dich schlafen«, fuhr Marilu betont gutgelaunt fort, obwohl auch ihr gar nicht so munter zumute war, wie sie sich gab.
Lua nickte, froh darüber, dass ihr jemand sagte, was und wie sie es zu tun hatte. Allein auf sich gestellt hätte sie sich wahrscheinlich sofort im Fluss ertränkt.
Sie zog ihr altes Lumpenkleid aus und warf es ans Ufer. Sie blieb mit den Schultern unter Wasser, denn es war ihr unangenehm, sich vor einer völlig Fremden nackt zu zeigen. Dann hielt sie die Luft an und tauchte auch ihren Kopf unter Wasser. Das Gefühl war so
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