Das Lied des Kolibris
atemberaubend erfrischend, dass ihr ganzer Körper vor Wonne prickelte. Ach, wie sehr sie die Kühle und die Sauberkeit vermisst hatte! Sie watete ein bisschen im Schlamm hin und her, ängstlich darauf bedacht, keine tiefe Stelle zu erwischen, in der sie untergehen konnte.
»Es ist hier überall flach. Du kannst dich nach Lust und Laune bewegen«, rief Marilu ihr zu. Sie war am Ufer geblieben und schaute der anderen bei ihrem Bad zu. Ja, zugegeben, wenn sie erst wieder ein wenig mehr Fleisch auf den Rippen hätte, wäre Lua sicher eine sehr ansehnliche Person. Wenn ihre Augen nicht von Tränen verquollen waren, ihre Züge nicht vor Anstrengung und Anspannung verzerrt, dann entpuppte sich dieses arme Ding bestimmt als eine Schönheit. Kein Wunder, dass Zé sie zur Frau genommen hatte.
Aber Marilu war nicht dumm. Sie ahnte, dass Lua in Liberdade für Zwist sorgen würde. Bebel, die ein Auge auf Zé geworfen hatte, würde eifersüchtig sein. Die Männer würden angesichts dieses schönen Mädchens ihre Pflichten vergessen und stattdessen Lua hofieren. Sie würden sie mit allen möglichen Dingen unterhalten, die für ihr Überleben im Busch eher überflüssig waren, ihr hübsche Federn zum Geschenk machen zum Beispiel oder ihr Ständchen bringen. Und Lua und Zé selbst?
Nun, da würde man erst einmal abwarten müssen.
Aber Marilu schwante Übles.
30
D a Lua sich selbst als Zés Ehefrau bezeichnet hatte, war es für sie wie für alle anderen selbstverständlich, dass sie Zés Hütte mit ihm teilen würde. Beide waren von der Reise erschöpft, und so gingen sie früh schlafen. Zé hatte Lua seine bequeme Matte gegeben, er selbst rollte sich auf einem Strohteppich auf dem Lehmboden zusammen. Beide fielen sofort in einen traumlosen, tiefen Schlaf. Die Situation war ja nicht neu für sie: Wochenlang hatten sie beieinandergelegen, ohne sich zu berühren oder auch nur ein Wort miteinander zu wechseln. Diesmal jedoch, in der Intimität der Hütte, war das Erwachen ein ganz anderes.
Lua schlug als Erste die Augen auf. Draußen war es noch dunkel, nur der Mondschein spendete ein winziges bisschen an Licht. Sie hatte keine Ahnung, wie früh oder spät es war. Doch sie fühlte sich erholt und ging davon aus, dass es in Kürze hell werden würde. Von ihrer Matte aus betrachtete sie Zé, der neben ihr lag und ihr seinen nackten Rücken zugewandt hatte. Sie erkannte nur Umrisse, doch sie wusste, welche Narben diesen Rücken bedeckten. Ein tiefes Mitleid überkam sie, ein Gefühl, das sie wochenlang nicht empfunden hatte, obwohl sie doch die Narben unzählige Male zu Gesicht bekommen hatte.
Sie erschrak, als Zé sich herumrollte und ein Grunzen von sich gab, als habe er sie bei etwas Verbotenem ertappt. Dabei würde er im Halbdunkel gar nicht genau erkennen können, worauf ihr Blick ruhte.
»Bist du schon wach?«, fragte er mit schläfriger Stimme.
»Hmm.«
»Und?«
»Und was?«
»Wie war deine erste Nacht in Liberdade, in Freiheit?«
»Gut.« Nach kurzem Zögern rang sie sich zu einem Dank durch. »Es war nett von dir, dass du mir die Matte überlassen hast.«
»Gern geschehen. Das tut ein Mann doch gern für sein Eheweib.«
»Zé, ich weiß …«
»Du weißt gar nichts.«
»Dann eben nicht.« Lua war ratlos. Jetzt hatte sie schon den Anfang gewagt, hatte sich bei Zé bedanken wollen, und da kam er mit ruppigen Erwiderungen, die jedes Gespräch im Keim erstickten. Wie sollte sie anders darauf reagieren, als ihm ihrerseits die kalte Schulter zu zeigen?
»Dreh dich um. Ich will aufstehen«, forderte sie ihn barsch auf. Anders als bekleidet wollte sie ihm nicht gegenübertreten.
Er wandte sich ab und wartete, bis er anhand der Geräusche wusste, dass sie sich Marilus Kleid übergestreift hatte. »Hast du deinen knochigen Leib jetzt gut vor mir verhüllt?«
Lua verkniff sich eine ähnlich boshafte Antwort. Sie verließ die Hütte schweigend und gegen neuerliche Tränen ankämpfend.
Am Feuer fand sie beide Frauen vor, die das gemeinsame Frühstück zubereiteten. Sowohl Bebel als auch Marilu wirkten überaus aufgeräumt, ja sogar fröhlich. Sie begrüßten Lua herzlich und ließen sich dann über Zés erfolgreiche Reise aus.
»Es ist wunderbar, dass er an Kaffee gedacht hat. Ich habe keinen mehr getrunken, seit wir hier angekommen sind. Das muss jetzt … sechs, vielleicht sogar sieben Monate her sein. Sieben Monate, Marilu, ist das zu fassen?«
»Ehrlich? Dann müssen’s bei mir noch mehr sein. Und Zucker! Wie
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