Das Lied des Kolibris
sprach abgrundtiefe Verachtung für ihn und die unwürdige Situation, in der sie beide sich befanden. Dennoch stapfte sie weiter, entschlossen und kraftvoll, ohne eine Spur von wehen Füßen oder müden Knochen. Das imponierte ihm. Vielleicht gab es doch noch Hoffnung für sie beide und eine gemeinsame Zukunft in Freiheit. In Lua steckte mehr, als sie selbst ahnte.
Sobald sie in Liberdade wären und Lua sich ein wenig eingewöhnt hätte, würde er sie nach allen Regeln der Kunst umwerben. Diesmal würde er es feinfühliger anstellen. Frauen wie Lua brauchten schöne Worte. Sie mochten romantische Situationen, sanfte Liebeslieder am Feuer oder zärtliches Geflüster im Mondschein. All das würde er beherzigen, wenn er sie fragte, ob sie seine Frau werden wollte.
Lua verfluchte die Mückenschwärme und die feuchte Hitze, bei der ihr sogar das Atmen schwerfiel. Sie verfluchte außerdem den Fremden an ihrer Seite. Es war merkwürdig, dass sie sich ihm hatte hingeben können, ohne auch nur das Geringste über ihn zu wissen. Hätte sie damals schon geahnt, was für ein berechnender, kaltherziger Mann Zé war, dann wäre es nie zu dieser einen Nacht gekommen.
Wie unbarmherzig und skrupellos er sein konnte, hatte sie erlebt, als er den alten Kutscher angeschossen hatte. Auch die Methoden, mit denen er sie zum Weitergehen zwang, waren nicht eben von großer Mitmenschlichkeit geprägt. Eine Frotzelei hier, ein Schubs da – die Ohrfeige war nur der krönende Abschluss einer ganzen Serie von Gemeinheiten gewesen, mit denen er sie spüren ließ, dass er sie für eine unnütze Bürde hielt, weniger kostbar auf alle Fälle als die beiden Rindviecher, die sich ähnlich abmühten wie sie selbst.
Nach knapp drei Wochen erreichten sie ihr Ziel. Sie hatten unterwegs kaum zehn zusammenhängende Sätze miteinander gewechselt, und von Tag zu Tag fiel es ihnen schwerer, dieses Schweigen zu durchbrechen.
»Zé!«, rief Bebel, die die beiden als Erste sah. »Oh Gott, du lebst! Lass dich drücken, Mann!« Damit rannte sie auf den Ankömmling zu und warf sich ihm an die Brust. Die beleidigten Blicke Luas nahm sie nicht wahr. »Wir hatten schon fast die Hoffnung aufgegeben. Ach Zé, ist das herrlich! Und wen hast du uns da mitgebracht?«
»Das ist Lua, meine … Frau.« Zé wusste nicht, wie er Lua sonst hätte vorstellen sollen. Als seine Geliebte? Seine Freundin? All das war sie nicht, nicht mehr. Aber um ihretwillen fand er, dass er sie zu seiner Gemahlin erklären musste. Die anderen brächten ihr dann sicher mehr Respekt entgegen als irgendeiner ungebundenen jungen Frau.
»Oh«, stutzte Bebel, die nicht gewusst hatte, dass Zé verheiratet war. »Willkommen, Lua!« Herzlich wollte sie die andere an sich drücken. Doch Lua wich einen Schritt zurück.
»Und wer bist du?«
»Ich bin Bebel. Bin mit meinem Bruder Caca vom Solar do Castelo abgehauen.«
»Freut mich, Bebel.« Lua zwang sich zu einem Lächeln, obwohl ihr alles andere als wohl zumute war. »Ich bin übrigens nicht Zés Ehefrau.«
»Ach so, na ja, spielt hier draußen irgendwie auch keine Rolle. So, ich hol mal schnell die anderen. Ach, Zé, sie werden sich freuen wie verrückt, dass du wohlbehalten wieder da bist.«
»Ja, ich freu mich auch.«
Als Bebel fortging, wandte Lua sich an Zé. »Gibt’s hier auch was zu essen und zu trinken? Eine Möglichkeit, sich zu waschen? Und einen Ort, wo ich mich ausruhen kann?«
Zé war verletzt, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. Wochenlang hatte er diese Frau beschützt und sie ernährt. Er hatte es sicher nicht verdient, von ihr wie ein Sklave behandelt zu werden. »Es gibt einen Fluss mit klarem Wasser. Und jede Menge Tiere. Du kannst dir ja gleich mal eines schießen.« Damit drehte er sich um und ging zu seiner Hütte. Lua ließ er einfach auf dem Platz stehen.
Als die anderen kamen, trat Zé aus seiner Hütte, ließ sich umarmen und mit Freudenausrufen begrüßen. Sogar João, mit dem es so viele Reibereien gegeben hatte, freute sich ehrlich über Zés Rückkehr. »Hast mir gefehlt, Mann.«
»Du mir auch«, erwiderte Zé und war erstaunt, dass es stimmte. Irgendwie war die kleine Gemeinschaft trotz aller Kabbeleien zu einer Familie zusammengewachsen – einer Familie, in der man einander Achtung und Vertrauen entgegenbrachte, in der man die anderen wie Brüder und Schwestern liebte, deren Fehler man zwar bemängeln mochte, sie aber hinnahm. Erst jetzt merkte Zé, dass er die Gesellschaft jedes einzelnen
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