Das Lied des Kolibris
verzeichnen hatten. Nicht nur der verlorene Wert der menschlichen Handelsware – und zwei junge, gesunde, kräftige Schwarze waren ein kleines Vermögen wert – schlug sich negativ in der Bilanz nieder, sondern auch die fehlende Arbeitskraft. Einen Mann wie Zé, der als Schnitter so viel Zuckerrohr erntete wie kaum ein anderer, konnte man nicht ohne weiteres entbehren, und eine perfekt ausgebildete Haussklavin wie Lua ebenso wenig. Es kostete Jahre, bis man die Schwarzen so weit erzogen hatte, dass sie alle Aufgaben zur vollen Zufriedenheit ihrer Senhores erledigten. Und man merkte ihrem Haushalt auch gleich an, dass die tüchtigste Kraft fehlte. Natürlich mangelte es ihnen nicht an Essen, und natürlich wurde die Casa Grande weiterhin perfekt in Schuss gehalten – Sklaven hatten sie ja genug. Doch zahlreiche kleinere Ärgernisse der jüngeren Zeit waren eindeutig darauf zurückzuführen, dass Lua fehlte.
So ließ der eingebildete Lulu zum Beispiel immer die Blumen in den Vasen, bis sie ganz welk und braun waren. Lua hatte stets dafür gesorgt, dass kein einziges schlaffes Blatt oder gar vertrocknete Blüten ihre Augen beleidigten, indem sie rechtzeitig neue Blumen in den Gefäßen arrangiert hatte. Und Fernanda war beim Servieren des Essens nicht halb so geschickt und unsichtbar wie Lua. Man sah, hörte und roch Fernanda, wenn sie die Speisen auftrug, ein unverzeihliches Manko, wenn es nach Dona Ines ging. Die nämlich regte sich furchtbar auf, obwohl Fernandas mangelnde Grazie ja hinlänglich bekannt war. Neuerdings schienen Dona Ines die Servietten nie akkurat genug gefaltet, das Silber nie blank genug geputzt, die Weingläser nie korrekt angeordnet zu sein. Kurz: Luas Abwesenheit sorgte für schlechte Stimmung – unter den Schwarzen genauso wie unter den Weißen.
Manuel wurde den vagen Verdacht nicht los, dass Imaculada irgendetwas mit Zés und auch mit Luas Flucht zu tun hatte. Nur weil sie alt war, bedeutete das doch nicht, dass sie unschuldig war. Er verstand nicht, warum niemand auf ihn hörte, ja, man seinen Verdacht sogar als lächerlich und unbegründet abtat. Was schadete es schon, die Alte einmal zu verhören? Wenn sie nichts mit alldem zu schaffen hatte, umso besser für sie. Wenn doch, dann lieferte sie vielleicht wertvolle Hinweise über den Verbleib der beiden Flüchtigen. In jedem Fall konnte es nicht schaden, sich Imaculada einmal vorzunehmen. Und um sich nicht weiter der Lächerlichkeit preiszugeben, würde er dies selbst in die Hand nehmen.
Er wartete ab, bis sein Vater außer Haus war und seine Mutter ihre Siesta hielt. Auf Eulália brauchte er nun, da sie fort war, ja nicht mehr zu achten – es waren Momente wie dieser, da er froh über ihre Hochzeit war, meistens jedoch vermisste er seine Schwester und ihre divenhaften Allüren mehr, als er es für möglich gehalten hätte. Er schlenderte betont lässig über den Hof zur Senzala. Alles war ruhig. In der Mittagshitze hielten sich nur die Kinder freiwillig draußen auf, und selbst die schienen keine rechte Energie zum Toben mehr zu besitzen. Eine Gruppe alter Sklaven hockte träge im Schatten des überstehenden Dachs der Senzala. Ein Greis war auf seinem Schemel, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, eingenickt. Ein Speichelfaden lief ihm aus dem halboffenen, zahnlosen Mund. Zwei andere Männer spielten ein Würfelspiel, eine alte Frau häkelte und führte dabei leise Selbstgespräche. Nur Imaculada war nirgends zu sehen. Ob sie im Innern der Sklavenunterkunft war und ein Nickerchen hielt?
Manuel beschloss, die alte Frau zu fragen, bevor er in die Senzala ging und diejenigen, die sich vielleicht darin befanden, erschreckte. »Sag mal, Tia Joaninha, hast du Imaculada irgendwo gesehen?«
»Nein, Sinhô Manuel, mit der habe ich nichts zu schaffen.«
»Ist sie drinnen?«, fragte er weiter. Dass die Schwarzen nie eine Frage richtig beantworten konnten, sondern immer erst einmal ihre Unschuld beteuern mussten, auch wenn diese nie angezweifelt worden war, ärgerte ihn.
»Nein, Sinhô Manuel, da drin ist sie bestimmt nicht. Sie ist rastlos, immer auf den Beinen, bestimmt läuft sie wieder durch den Obstgarten.«
»Na schön, danke. Dann sehe ich dort mal nach.«
Manuel ging gemächlich weiter in die angegebene Richtung. In der unbarmherzigen Sonne des frühen Nachmittags nahm er viele Dinge plötzlich in einer ungeahnten Schärfe wahr: die rissigen Stützbalken der Senzala, den rostigen Zaun, der den Hühnerpferch umspannte, die von
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