Das Lied des Kolibris
eine Schande für São Fidélio. Wir brauchen die Neger, und sie brauchen uns. Was ist daran verkehrt?«, fragte ihr Vater.
Aber Eulália war schon nicht mehr da, um ihm zu antworten. Beleidigt und heftig gegen die Tränen ankämpfend, war sie aus dem Salon gestürmt.
»Sicher wieder ein Frauenleiden«, sagte Manuel nüchtern und beschloss damit das unerfreuliche Gespräch.
Ein Leiden ganz anderer Natur hatte unterdessen den ältesten Sohn der Familie Oliveira befallen. Zum ersten Mal, seit er in Salvador an der medizinischen Fakultät studierte, hockte er stundenlang über Büchern und versuchte, eine Diagnose zu stellen. Carlos hatte ein Geschwür an einer äußerst intimen Stelle seines Körpers entdeckt, das eine rötliche Farbe hatte und eine farblose Flüssigkeit absonderte. Hatte er sich die Franzosenkrankheit zugezogen? Er wälzte die Fachliteratur, doch jedes Werk führte andere Symptome und andere Heilmethoden an. Alle indes kamen zu demselben Schluss: Über kurz oder lang endete die Syphilis tödlich.
Als nach ein paar Wochen das Geschwür wieder abheilte, war Carlos unendlich erleichtert. Es war wohl doch nicht die Franzosenkrankheit gewesen. Er würde sich weiter vergnügen können – und jetzt mehr denn je zuvor. Der Schreck war ihm derart in die Glieder gefahren, dass er befand, das Leben sei zu kurz, um es mit Keuschheit und fleißigem Studieren zu vergeuden. Er wollte Spaß haben!
Da die Bordellbesuche ihm allmählich zu kostspielig wurden, dachte er sogar ernsthaft darüber nach, sich eine Ehefrau zu suchen. Er hätte dann immer eine Frau zur Verfügung, und das ganz umsonst. Wenn sie noch eine schöne Mitgift mitbrächte – umso besser. Interessierte junge Damen aus gutem Haus gab es jedenfalls zuhauf. Und seine Eltern würden eine Eheschließung ebenfalls gutheißen. Ja, dachte Carlos, eigentlich wäre jetzt ein trefflicher Zeitpunkt, um nach außen hin auf den Pfad der Tugend zurückzukehren und in Wahrheit nur noch hemmungsloser saufen, spielen und huren zu können. Denn was hatte eine Ehefrau schon zu sagen? Sobald er ihr ein Kind gemacht hätte, wäre sie ohnehin vollauf mit ihrem Muttersein beschäftigt.
Er überlegte, welcher jungen Frau er den Hof machen sollte, um seine Eltern möglichst bald mit der frohen Kunde überraschen zu können. Die dickliche Florinda? Nein, sie war zwar reich, aber leider auch unansehnlich. Vielleicht die kokette Isabelinha? Warum nicht? Sie war ganz niedlich. Ihre Eltern waren zwar nicht ganz so reich, aber wohlhabend genug, um ihrer einzigen Tochter eine ordentliche Mitgift zu geben. Und er würde gute Chancen bei ihr haben. Sie machte ihm schon länger schöne Augen. Leider waren Isabelinhas Eltern furchtbare Moralapostel – wenn sie Wind von seinem Lebenswandel bekamen, würden sie ihn als Schwiegersohn ablehnen.
Vielleicht, rechnete Carlos sich aus, würde es sich bezahlt machen, wenn er mal ein paar Tage weniger trank. Er sähe dann sogleich viel gesünder aus und würde den Leuten erhobenen Hauptes gegenübertreten können, wenn er darum bat, Isabelinha seine Aufwartung machen zu dürfen. Diese verfluchten Konventionen! Man musste sich in solchen Dingen immer sehr viel Zeit lassen, Zeit, in der man sich zu benehmen hatte und sich nicht gehenlassen durfte. Er musste die Eltern für sich einnehmen, musste dem Mädchen den Kopf verdrehen, musste unzählige Male unter Beobachtung mit Isabelinha im Salon hocken und Gedicht- oder Gesangsvorträgen lauschen. Er würde sich zu Tode langweilen, bevor auch nur daran zu denken war, um die Hand der jungen Frau anzuhalten. Danach würden viele Wochen vergehen, bevor man eine Verlobung anberaumt hätte, danach wiederum hieße es monatelang warten, bis eine Vermählung stattfinden konnte. Himmelherrgott! Das dauerte alles viel zu lange! Wenn er heute anfinge, seinen Plan in die Tat umzusetzen, konnte er frühestens in einem Jahr mit der Mitgift sowie mit den Freuden des Ehelebens rechnen. Das war entschieden zu aufwendig. Das würde er niemals durchstehen. Nein, er musste sich etwas anderes überlegen, wie er in den Genuss regelmäßiger fleischlicher Freuden und zu Geld käme. Er brauchte ein Glas Wein. Oder mehrere Gläser. Dann würde er besser über dieses Dilemma nachdenken können.
Sein jüngerer Bruder Manuel brütete währenddessen auf der elterlichen Fazenda über schwer entzifferbaren Zahlenkolonnen. Es war nicht hinzunehmen, dass sie durch die Flucht zweier Sklaven erhebliche Einbußen zu
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