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Das Lied des Kolibris

Das Lied des Kolibris

Titel: Das Lied des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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gefährlicher. Oder war das alles nur Einbildung? Ob es am Ende doch nur ein seltener Vogel war?
    »Keine Angst, Sinhazinha!«, glaubte sie zu hören. Aber das konnte doch nicht sein, oder? Ihre Phantasie spielte ihr üble Streiche, das war alles.
    »Bitte wartet doch, Sinhazinha Eulália, ich bin es nur.«
    »Lua?«, fragte Eulália. Sie war stehen geblieben und schaute sich um. Ja, da bewegte sich etwas im Unterholz.
    »Ja, Sinhazinha, ich bin’s.« Lua trat aus dem Schatten hervor.
    Eulália war ebenso erleichtert darüber, dass es kein Wegelagerer war, wie sie über Luas Erscheinung erschrak. Ihre ehemalige Zofe sah aus wie ein Gespenst: abgemagert bis auf die Knochen, in zerlumpten Kleidern, mit struppigem Haar und zahlreichen Schürfwunden.
    »O mein Gott!«, stieß Eulália hervor. Dann trat sie auf Lua zu, schloss sie in die Arme und schluchzte mit ihr gemeinsam.
    Es vergingen mehrere Minuten, bis sie sich wieder so weit gefasst hatten, dass sie sprechen konnten.
    »Wie kommt es, dass du …«, wollte Eulália fragen.
    Gleichzeitig setzte Lua zu der gleichen Frage an: »Warum lauft Ihr denn hier am …«
    Sie sahen einander an und begannen zu lachen. Es war kein fröhliches Gelächter, sondern ein Ausdruck von Verzweiflung und Angst.
    »Du zuerst«, sagte schließlich Eulália. »Was machst du hier?«
    »Ich, ähm, ich war ja geflüchtet«, stotterte Lua, bevor sie wieder in Tränen ausbrach. »Oh, Sinhazinha, es tut mir ja so leid!«
    »Schon gut, beruhige dich. Und dann fahre fort. Du warst ja geflüchtet …«
    »Ja, und ich bin Zé in den Urwald gefolgt, und dort«, hier verstümmelte neuerliches Schluchzen ihre Rede, »und dort war es schrecklich. Es war so schrecklich, dass ich den ganzen Weg allein wieder zurückgelaufen bin. Und jetzt …«
    »Jetzt?«
    »Also, jetzt bin ich ja hier und … und ich hatte gehofft, dass Ihr mir verzeiht und mich wieder in Eure Dienste nehmt. Oh, Sinhazinha, bitte! Ich tue alles für Euch, ich werde nie wieder aufmüpfig sein, und ich werde jede Strafe dankbar annehmen!«
    Eulália schüttelte nachdenklich den Kopf. Sie war über Luas Erscheinen unglaublich froh. Endlich hatte sie wieder jemanden zum Reden, jemanden, bei dem sie sich nicht verstellen musste und bei dem sie sich ungehemmt ausheulen konnte. Nichts hätte sie lieber getan, als sofort mit ihr nach Hause zu laufen, der Ärmsten ein Bad einzulassen und sie mit den feinsten Leckereien aufzupäppeln. Aber sie war auch vernünftig genug, um zu wissen, dass man ihr diese eine Freundin nicht gönnen würde. Ihre Schwiegereltern und Rui Alberto würden darauf bestehen, dass Lua eine angemessene Strafe erhielt, und angemessen war in diesem Fall mindestens die Peitsche. Sie würden sie außerdem nach São Fidélio zurückschicken, und dann hätte Eulália nicht nur ein weiteres Mal ihre Freundin verloren, sondern würde auch noch die Schuld auf sich laden, Lua im Stich gelassen zu haben. Nein, das war keine Lösung.
    Lua beobachtete jede Regung im Gesicht ihrer Sinhazinha mit großer Spannung. Sie konnte in ihr lesen wie in einem Buch, immerhin kannten sie einander ihr ganzes Leben lang. Und was sie dort las, ließ sie vor Enttäuschung aufstöhnen. Bei näherem Betrachten fiel ihr allerdings noch etwas auf: Ihre einstige Herrin war todunglücklich. Und damit war sie wieder bei der Frage, die sie schon zu Beginn ihrer Begegnung hatte stellen wollen.
    »Sinhazinha, was führt Euch so früh am Morgen an den Strand, so ganz allein? Ist alles in Ordnung?«
    Hier nun musste Eulália in Tränen ausbrechen.
    »Nein, Lua, nein. Nichts ist in Ordnung«, schluchzte sie. »Es ist schrecklich auf Três Marias, meine Schwiegereltern sind schrecklich, und das Eheleben ist es auch. Ach, könnte man doch nur die Zeit zurückdrehen! Wie schön es war, noch vor ein paar Monaten. Da waren wir beide daheim auf São Fidélio, hatten ein gutes Leben, und unsere größte Sorge bestand darin, ob das kupferfarbene Seidenkissen mit dem grünen Sessel harmonieren würde.«
    Lua nickte. Natürlich war es nicht wirklich ihre Sorge gewesen, welcher Stoff zu welchem Polsterbezug passte. Richtig aber war, dass es ihnen beiden gutgegangen war, dass sie keinen größeren Kummer gehabt hatten und dass auch sie liebend gern die vergangenen Monate rückgängig gemacht hätte. Es bedrückte sie, dass es der Sinhá Eulália offenbar ähnlich schlecht ergangen war wie ihr selbst, wenn auch ohne die materiellen Nöte.
    »Was ist denn passiert? Dona

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