Das Lied des Kolibris
dieser Falle befreien? Denn dass sie diese seelischen Misshandlungen noch jahrzehntelang ertragen sollte, war undenkbar.
Wie schön musste es sein, frei zu sein – frei, die eigenen Entscheidungen zu treffen, frei von jeglicher Bevormundung durch Eltern, Ehemann oder Schwiegereltern. Sie war doch in Wahrheit viel unfreier als die Sklaven, denn die konnten sich ihre Freiheit wenigstens kaufen. Sie konnte nichts dergleichen tun. Und zu fliehen hatte auch keinen Sinn. Ganz gleich, wohin sie gehen würde – als junger Frau, die unbeaufsichtigt von Eltern, Ehemann oder wenigstens einer alten Tante unterwegs war, erginge es ihr schlecht. Luas peinlicher Fluchtversuch zeugte davon.
Ach was, eigentlich wollte sie das ja auch gar nicht. Sie wünschte sich nur, ihr Mann würde sich ein bisschen mehr um sie kümmern, würde sie mehr verwöhnen und besser beschützen. Schön wäre es auch, endlich dem verhassten Três Marias zu entkommen, und sei es nur für ein paar Monate. Aber die Hochzeitsreise nach Europa war ins Wasser gefallen, weil das Schiff, mit dem sie hätten reisen sollen, auf Grund gelaufen war und kurzfristig keine Passage auf einem der anderen Segelschiffe mehr gebucht werden konnte. Eulália hatte den Verdacht, dass es auch niemand ernsthaft versucht hatte: Mit ein wenig Bestechungsgeld wäre sicher noch auf wundersame Art und Weise eine Kabine frei geworden.
Sie betrachtete ihre Unterschenkel und Füße im Wasser, die bleich und sonderbar verzerrt aussahen. Am liebsten hätte sie alle Kleidung von sich geworfen und ein Bad im Meer genommen, aber so weit reichte ihre Courage dann doch nicht. Es war ohnehin Zeit, wieder an den Strand zu waten. Die Sonne brannte von Minute zu Minute heißer auf sie herab. Sie trug zwar einen Strohhut, aber auch der warf nicht auf alle unbedeckten Hautstellen Schatten. Wenn Dona Filomena Sommersprossen auf Eulálias Handrücken entdeckte, wäre wieder eine Moralpredigt fällig, ganz zu schweigen von den schlimmen Vorwürfen, die ihrer harrten, wenn sie sich gar einen Sonnenbrand auf der Nase zuzog. Als sie wieder am Strand war, trottete Eulália daher unwillig unter den Palmen entlang. Der Sand war dort trocken und anstrengend zu begehen, aber noch länger auf dem festen, nassen Sand in Wassernähe zu laufen, getraute sie sich wegen der Sonne nicht.
Während der ganzen Zeit ihres kleinen Strandausflugs hatte Eulália keine Menschenseele gesehen, und plötzlich geisterten morbide Gedanken durch ihren Kopf. Was, wenn sie von einer herabfallenden Kokosnuss getroffen wurde? Was, wenn sie einen Hitzschlag erlitt und ohnmächtig niedersank? Würde man sie finden? Würden ihr Pflege und Mitleid zuteilwerden? Oder würde man sie nur mit weiteren Anschuldigungen quälen, ihr ihre Verantwortungslosigkeit vorwerfen oder ihre Gedankenlosigkeit?
Der Spaziergang artete zum Marsch aus. In dem weichen Sand kam Eulália nur sehr langsam voran, und schon nach einer kurzen Wegstrecke lief ihr der Schweiß in Strömen herunter. Herrje, dachte sie, was für eine blöde Idee war dieser gewagte Ausflug gewesen! Vergessen waren die herrlichen Momente im Meer, nun dachte sie nur noch an den Weg, der noch vor ihr lag, an die Anstrengung sowie an die Blicke der Bewohner von Três Marias, schwarzen wie weißen, wenn sie zerzaust, verschwitzt und erschöpft über den Hof lief. Es war nun nicht mehr ganz so früh, da herrschte reger Betrieb rund um die Casa Grande. Und ob sie es schaffen würde, rechtzeitig zum Frühstück zu erscheinen? Ihre Schwiegermutter war, was die gemeinsamen Mahlzeiten anging, sehr eigen.
Plötzlich riss ein leiser Pfiff sie aus ihren trübsinnigen Gedanken. Das war ganz bestimmt kein Vogel gewesen! Eulália erschrak fast zu Tode. Wenn ihr hier nun ein Übeltäter auflauerte? Sie sah sich nach allen Seiten um, spähte zwischen den Palmen hindurch in das dichte Grün dahinter, konnte jedoch nichts erkennen. Entschlossen stapfte sie weiter. Ihre Müdigkeit war auf einmal wie weggeblasen. Sie ließ den Rock, den sie die ganze Zeit bis über die Knie gerafft hatte, wieder ein wenig herab – man wusste ja nie, ob es nicht doch Zuschauer gab. Aber wer sollte das sein?
Heftig atmend ging sie weiter. Jetzt hörte sie überall verdächtige Geräusche. Das Rauschen der Palmblätter im Wind, das ferne Tosen der Brandung, selbst das Rascheln ihres Rocks erschienen ihr bedrohlich. Sie fiel in den Laufschritt. Und da – plötzlich war da wieder dieser Pfiff! Diesmal klang er näher und
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