Das Lied des Kolibris
der Weg in die Naturbecken war ein wenig beschwerlich, musste man doch über die zum Teil sehr glitschigen und mancherorts scharfkantigen Felsen klettern. Aber Eulália hatte eine gute Stelle gefunden, an der sie ohne Schwierigkeiten ins Wasser gelangen konnte. Sie hob ihren Rock noch ein wenig weiter an und stakste dann vorsichtig in eines der Bassins. Ah, es war wundervoll! Das Wasser war erfrischend, aber nicht kalt, und der Sand quoll wohltuend zwischen ihren Zehen hervor. Zahllose Krebse liefen über die Felsen, und im Wasser tummelten sich schillernd bunte Fische, die neugierig um Eulálias Beine herumschwammen.
Die Aussicht war ebenfalls ungewohnt. Den palmengesäumten Sandstreifen hatte sie erst zweimal vom Wasser aus gesehen, beide Male von Booten aus, die allerdings viel weiter von der Küste entfernt gewesen waren. Ein Stück türkisfarbenen Wassers zwischen sich und dem Sand zu sehen war ein ästhetischer Hochgenuss.
Eulálias Tränen versiegten schnell angesichts der grandiosen Schönheit der Natur, ihrer unbändigen Kraft und der tröstlichen Gewissheit, dass all ihre Sorgen vor dieser Kulisse winzig und unbedeutend waren. Noch in 100, ja in 1000 Jahren würden die Palmen sich in der warmen Brise wiegen, würden die Wellen auf das Riff prallen und Krebse über den Strand laufen. Was war dagegen schon ihr eigenes armseliges Leben wert? Im besten Falle würden ihre Kinder und Enkel sich gern an sie erinnern, würden ihren Grabstein regelmäßig von Moos befreien und ein Porträt von ihr im Salon aufhängen. Eines Tages stünden ihre Ururenkel vielleicht staunend davor und würden fragen: Wer war denn diese merkwürdig gekleidete Frau mit dem traurigen Gesichtsausdruck?
Bei diesem Gedanken stiegen Eulália wieder die Tränen hoch. Warum hatte man sie so schamlos belogen? Warum wurden alle jungen Frauen so gemein hintergangen? Man erzog sie in dem Glauben, dass es das höchste Glück sei, sich zu verheiraten, einen eigenen Hausstand zu haben, Kinder zu bekommen. Aber wer sprach schon jemals davon, wie es war, wenn man vom Ehemann vernachlässigt wurde, wenn die Schwiegereltern einen nicht ernst nahmen und wenn man in einem fremden Haus lebte, in dem man nichts zu sagen hatte? Niemand! Keiner sprach die Wahrheit aus. Alle hielten weiter an der Mär von der erfüllenden Erfahrung der Ehe und Mutterschaft fest.
Und was, wenn man nun keine Kinder bekommen konnte? Das nämlich, so befürchtete Eulália, war bei ihr der Fall. Sie war immerhin schon drei Monate verheiratet, und da hätte längst etwas passieren müssen. Laut ihrer Schwiegermutter war sie eine Art Missgeburt, weil sie nicht empfing. »Also, bei mir hat es keine drei Tage gedauert«, prahlte Dona Filomena. »Mit dir stimmt etwas nicht, Eulália. Vielleicht solltest du einmal einen Arzt aufsuchen.«
Wenigstens konnte Eulália rechnen, und sie kam zu dem Schluss, dass Dona Filomenas schnelle Empfängnis mit anschließendem Siebenmonatskind bestimmt nicht hinterfragt werden durfte. Ein großer Trost war dies nicht.
Auch Rui Alberto fand nach einer Weile, dass mit Eulália etwas nicht stimmte. »Du liegst bei mir wie ein toter Fisch. Das ist nicht normal.« Ja, aber wie sollte sie denn sonst bei ihm liegen? Wie ein lebendiger Fisch etwa? Sie hatte keine Ahnung, was sie falsch machte, und der einzige Mensch, der es ihr hätte sagen können, nämlich ihr Mann, speiste sie mit beleidigenden Antworten ab. »Wenn du das nicht selbst weißt, ist dir wirklich nicht mehr zu helfen.« Wahrscheinlich, dachte Eulália, lag es an ihren Fehlern im Bett, dass es mit dem Nachwuchs nicht klappte.
Sogar ihr Schwiegervater fing allmählich an, ihr ihre vermeintlichen Unzulänglichkeiten vorzuwerfen. Immer öfter hatten Mutter und Sohn bei Tisch an Eulália herumgemäkelt, so dass diese negative Einstellung ihr gegenüber nun auch auf Dom Afonso abzufärben begann. Dona Filomena und Rui Alberto scheuten nicht einmal davor zurück, Unwahrheiten zu verbreiten, wie etwa die, Eulália ginge verschwenderisch mit Lebensmitteln um. »Du solltest besser darauf achten, was die Neger zu essen bekommen. Zu viel Fleisch macht sie nur fett und faul«, warf Dom Afonso ihr eines Tages vor, in zwar mildem, aber unverkennbar tadelndem Ton. Dass sie nicht den geringsten Einfluss auf den Speiseplan der Sklaven hatte, verhallte ungehört.
Es war alles so ungerecht! Was hatte sie sich zuschulden kommen lassen, um so schlecht behandelt zu werden? Und wie sollte sie sich jemals aus
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