Das Lied des Kolibris
skeptisch, so dass ich fortfuhr: »Imaculada haben fünf Jahre Milch gegeben, viele starke Sklavenkinder. Andere Negerfrau nur dumm und unglücklich, weil Kind tot.«
»Mag sein«, antwortete sie. »Dennoch wäre es wohl das Beste, wenn wir von nun an eine andere Frau als Amme beschäftigen. Die Sklaven wollen ihre Kinder nicht mehr in deine Obhut geben.«
Und damit endeten die vergleichsweise angenehmen Zeiten auf der Fazenda für mich. Man schickte mich in die
casa da farinha
, ins »Mehlhaus«, wo wir in unerträglicher Hitze tagaus, tagein Maniokwurzeln stampfen und den Brei zu Mehl rösten mussten, was besonders im Sommer sehr anstrengend war. Doch die arme Frau, die ihr Kind verloren hatte, gab keine Ruhe. Noch immer verbreitete sie schlimme Gerüchte über mich, unter anderem jenes, ich würde das Mehl mit meinen Zauberkräften vergiften, und sie alle seien dem Tode geweiht.
Diesmal allerdings gaben unsere weißen »Besitzer« trotz einer drohenden Rebellion nicht nach. Der Senhor Sebastião höchstpersönlich kam irgendwann zur Casa da Farinha und probierte vor aller Augen von dem Mehl, das ich gemacht hatte. Er bat sogar um einen
beijú
, einen Tapioka-Fladen, den er mit großem Appetit verspeiste. Anschließend stellte er sich vor die versammelten Sklaven und hielt eine kurze Rede. »Abergläubisches Geschwätz ist hier nicht erwünscht. Imaculada hat sich zu einer brauchbaren Sklavin entwickelt, die ihre Arbeit vorbildlich verrichtet. Ihr könnt euch ein Beispiel an ihr nehmen, anstatt eure Zeit damit zu verplempern, unser gutes Mehl schlechtzureden.« Dann ging er wieder fort, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen. Er hatte wahrscheinlich schon vergessen, dass ich einmal seine Favoritin gewesen war. Er hatte unterdessen mehrere andere Mädchen geschwängert, wie er es für sein gutes Recht hielt.
Seine aktuelle Favoritin war gerade 14 Jahre alt, und sie trug ihren dicken Bauch so stolz und angeberisch vor sich her, als sei sie die Herrin der Fazenda. Ich hatte Mitleid mit ihr, denn sie fühlte sich uns anderen überlegen, weil sie jung, hübsch und schwanger mit der Brut des Fazendeiros war. Sie war anscheinend der Meinung, dass ihr ein Schicksal wie das meine niemals drohen könne, da sie ja ewig jung bliebe und auf immer in der Gunst des Senhors stünde. Eines Tages, wenn erst ihre Brüste hingen und man ihr ihre Kinder weggenommen hätte, würde sie die Wahrheit erkennen.
Ich dachte auf einmal daran zurück, wie ich selbst im Alter von 14 Jahren gewesen war: die junge Braut Uanhengas, blind für die Gefühle der anderen, erfüllt allein von Stolz und dem festen Glauben an die eigene Unbesiegbarkeit. Ich war diesem Mädchen hier gar nicht so unähnlich gewesen, und die plötzliche Erkenntnis, dass dies erst gute zehn Jahre zurücklag, traf mich mit ungeheurer Wucht. Ich war gerade mal 25 Jahre alt, doch ich fühlte mich wie eine Greisin! Afrika lag in unerreichbarer Ferne, und meine Erinnerungen an die Heimat schwanden mit jedem Tag, den ich in Gefangenschaft verbrachte. Das war erschütternd. Ich nahm mir vor, mir jeden Tag mindestens eine Episode aus meinem alten Leben ins Gedächtnis zu rufen, so geringfügig sie auch sei. Ich hatte begonnen, Ngola zu vergessen, ja ich hatte sogar begonnen, Uanhenga und meine Kinder zu vergessen, was unverzeihlich war. In Ermangelung eines Zuhörers hatte ich meine Geschichte niemandem erzählt, obwohl ich doch frühzeitig gelernt hatte, wie bedeutsam die mündliche Überlieferung für die eigene Erinnerung und damit für die eigene Seele war.
In unserem Dorf hatte es einen weisen Mann gegeben, dessen Gedächtnis auf so phänomenale Weise geübt war, dass er ganze Familienchroniken aufsagen konnte. Er tat dies gegen eine geringfügige Bezahlung in Naturalien, denn sein Gedächtnis war das des ganzen Dorfes. Man verließ sich auf ihn, und soviel ich weiß, hat er nie auch nur einen Fehler gemacht, obwohl er Stammbäume von Hunderten von Menschen über Hunderte von Jahren hersagen konnte. Natürlich hatten wir damals keine Jahreszahlen, so wie die Portugiesen, deren Geschichte sich an einem einzigen Datum orientierte, nämlich dem Geburtstag ihres angeblichen Erlösers. Bei uns wurden die Naturgewalten oder außergewöhnliche Ereignisse als Anhaltspunkte gewählt. So hieß es dann etwa, »im Jahr der großen Überschwemmung« oder »als die weißen Barbaren unseren Fluss erstmals befuhren«. Damit konnte jeder viel mehr anfangen als mit irgendeiner
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