Das Lied des Kolibris
wusste, seinen Lebensmut zu stärken. Doch nach vielleicht zwei Wochen wurde Zêzé unruhig.
»Du musst damit aufhören. Der Schinder kann jeden Tag zurückkommen. Und gnade uns Gott, wenn er etwas hiervon erfährt.«
»Kasinda nix Böses tun, nicht? Und Sinhô Zêzé auch nix Böses tun.«
»Mag schon sein. Aber er mag es nicht, wenn man sich seinen Anweisungen widersetzt.«
Wie sehr der Aufseher damit recht hatte, zeigte sich wenige Tage später, als unser grausamer Herr von seinem Ausflug zurückkehrte. Noch bevor er zu Hause ankam, hatte er im Dorf und bei den Minen alles in Erfahrung gebracht, was sich während seiner Abwesenheit getan hatte. Er rief mich zu sich, und ich sah an seinem Blick, dass er nichts Gutes im Schilde führte. Er sah aus wie ein Kater, der mit einer Maus spielt, die er ohnehin schon halb totgebissen hatte.
»Du warst im Dorf, obwohl ich es verboten hatte.«
»Sim, Sinhô«, gab ich zu und legte so viel Zerknirschtheit in meine Stimme, wie es mir möglich war.
»Und du hast deinen Mann besucht, um ihm zu essen zu bringen.«
Ich nickte.
»Wovon hast du das denn bezahlt?«
»Kasinda haben bisschen Geld«, sagte ich.
Er schlug mir hart ins Gesicht. »Kasinda haben beklaut Sinhô!«, äffte er mein fehlerhaftes Portugiesisch nach.
»Nein, Sinhô! Kasinda kein Diebin.«
Er schlug mich erneut. Dann zog er mit einem bösen Grinsen das goldene Schmuckstück aus der Tasche, das ich bei Sopa gegen ein paar Münzen und Naturalien eingetauscht hatte.
»Und das hier? Wie kommt eine abgehalfterte Negerin wie du zu Gold, wenn nicht durch Diebstahl?«
Ich erklärte ihm, dass ich einst schön und jung gewesen war und dass mein ehemaliger Herr mir den Schmuck geschenkt hatte.
»Geschenkt? Dir? Pah! Du hast den Anhänger gestohlen, das hast du! Und weißt du auch, was ich hier mit Dieben mache?«
Ich schüttelte verzweifelt den Kopf. Nein, ich wusste nicht, was er mit Dieben machte, konnte es mir aber lebhaft vorstellen.
»Ich hacke ihnen eine Hand ab.«
Ein eiskalter Schauer überlief mich. Ich sah dem Schinder an, dass er Lust hatte, mich zu bestrafen, ob ich schuldig war oder nicht. Seine Reise war vielleicht nicht zu seiner Zufriedenheit verlaufen, was wusste ich schon? Aber was auch immer geschehen sein mochte, er hatte mich zum Sündenbock auserkoren.
Er fackelte nicht lange. Er rief Zêzé sowie zwei andere Männer, die mich festhalten sollten. Ich schrie und versuchte, mich loszureißen, aber ich hatte keine Chance. Mit eisernem Griff presste der Schinder meine rechte Hand auf den Küchentisch, ließ sich eine Axt reichen und holte aus.
»Ich will noch einmal Gnade vor Recht ergehen lassen. Tot nützt du mir nichts, und einhändig genauso wenig. Sieh es als Warnung.«
Ich nahm plötzlich jede Einzelheit in meiner Umgebung in einer schmerzhaften Schärfe wahr: die Fliegen, die unter der Decke schwirrten; den Geruch von gärenden Früchten, die in einem Korb vor sich hin gammelten, während die Minenarbeiter sich nach Obst verzehrten; die bläulichen Schimmelflecken in den Ecken des Raums; und die Kerben in dem massiven Tisch aus Ipê-Holz, die wahrscheinlich von ähnlichen Bestrafungen wie der meinen herrührten.
Ich schloss die Augen.
Das Letzte, was ich hörte, bevor eine Ohnmacht mich gnädig umfing, war das Zischen der Axt, die niedersauste und mit einem dumpfen Ton im Holz landete.
Das Abtrennen meines kleinen Fingers dagegen war gar nicht zu hören gewesen.
43
S o verhielt es sich also mit Kasindas kleinem Finger. Auf São Fidélio kursierten die abenteuerlichsten Gerüchte darüber, wie sie des Fingers verlustig gegangen war. Lua schämte sich jetzt für die lächerlichen Theorien, die sie alle aufgestellt hatten. Wie dumm und wie blind sie gewesen waren! Fernanda hatte die Meinung vertreten, der Finger sei einer rituellen Stammeszeremonie zum Opfer gefallen, während Lulu gemeint hatte, Kasinda habe ihn sich auf dem Sklavenschiff abgenagt, um nicht hungers zu sterben. Andere hatten einleuchtendere Gründe für den fehlenden Finger angeführt: ein Unfall, ein Sturz etwa oder ein Missgeschick in der Küche, könne die Ursache sein, oder aber auch eine Krankheit, vielleicht eine Art afrikanischer Lepra, die rechtzeitig geheilt wurde, bevor weitere Finger abfielen. Sie hatten sich damals vor vergnügtem Ekel geschüttelt und sich, wenn sie in einer albernen Laune waren, immer neue Geschichten ausgedacht. An diesem fehlenden kleinen Körperglied entzündete sich ihre
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