Das Lied des Kolibris
schwerer Sturm über uns hereingebrochen. Ich hoffte, dass die aufgewühlte See uns alle verschlingen würde, das Schiff samt Gefangenen und Wächtern. Viel fehlte wohl nicht mehr. Das Schiff schaukelte und schlingerte unter der Wucht der Brecher, die auf es niedergingen, dass selbst unter der Mannschaft große Angst herrschte. Man erkannte es an ihren Stimmen, und man erkannte es an der kopflosen Art, in der sie oben hin und her liefen, von Todesfurcht erfüllt.
Ein plötzliches kreischendes Geräusch übertönte all den Lärm, den die Matrosen verursachten, ließ das Tosen des Sturms wie zartes Murmeln erscheinen und unser eigenes Angstgeschrei wie leises Flüstern. Wir alle hielten die Luft an angesichts der letzten Augenblicke, die uns, wie wir ahnten, in dieser Welt beschieden waren. Dann schrie einer der Gefangenen: »Wasser! Wasser! Es ist überall!«, und zerrte wie wild an seiner Kette. Es dauerte noch ein wenig, doch irgendwann bemerkte auch ich es. Das Schiff war leckgeschlagen, und unaufhaltsam füllte sich sein riesenhafter Bauch mit dem tödlichen Nass. Keiner von uns hatte auch nur die geringste Chance, dem Ertrinken zu entkommen. Ich war als eine von wenigen sehr ruhig. Es verschaffte mir eine gewisse Befriedigung, dass ich nun auf dieselbe Weise sterben würde wie meine Tochter.
Als wir alle schon bis zu den Knien im Wasser standen, kamen ein paar Männer und öffneten unsere Ketten.
»Auf, auf!«, riefen sie und reichten uns Eimer. Mit der Peitsche trieben sie uns an, schnell zu arbeiten. Was für ein Hohn! Ausgerechnet wir sollten nun unseren Folterknechten das Leben retten. Wir waren alle halb tot vor Hunger, Krankheit, Entbehrung, Luft- und Bewegungsmangel. Keiner von uns war mehr in der Lage, die randvollen Eimer anzuheben, da halfen auch keine Peitschenhiebe. Doch mit zur Hälfte gefüllten Eimern ging es irgendwie, und tatsächlich gelang es uns, Eimer für Eimer durch eine lange Menschenkette zu reichen und schließlich an einer Öffnung im Bug des Schiffs das Wasser ins Meer zurückzubefördern. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, doch als wir schon halb ohnmächtig vor Entkräftung waren, sank der Wasserspiegel im Innern.
Nachdem der Sturm sich gelegt hatte, feierte die Besatzung ihr wundersames Überleben. Zwei von ihnen kamen in unser Zwischendeck, das von der Überflutung einigermaßen gesäubert worden war, und begutachteten uns. Sie schienen jemanden zu suchen.
»He, sieh mal die hier. Knackige Brüste, strammes Hinterteil – die scheint mir geeignet«, sagte einer und begrabschte mich unsanft.
Mir schwante Übles. Wollten die Kerle uns nun auch noch vergewaltigen?
»Ein Männchen hab ich auch schon entdeckt«, rief ihm der andere zu. Er meinte damit einen Mann, der zusammengesackt in einer weit von mir entfernten Ecke kauerte. »Er tut so, als wäre er krank, aber er scheint mir von all dem Vieh hier noch am kräftigsten zu sein.«
Sie ketteten den Mann und mich ab und trieben uns vor sich her. »Los, ihr dreckigen Tiere, macht schon voran!«, riefen sie und ließen die Peitsche neben uns sirren. Der Mann und ich stolperten eine schmale Stiege hinauf. Oben angekommen, waren wir zunächst halb blind von der Helligkeit, die uns erwartete. Die Sonne schien von einem strahlend blauen Himmel herab, die Luft roch frisch und salzig. Doch man ließ uns keine Zeit, den Anblick und den Duft zu genießen.
»Tanzt!«, forderte uns ein anscheinend höherrangiger Mann auf, der gleichzeitig mit einem Wink zwei Musikanten zu verstehen gab, sie mögen nun aufspielen.
Der schwarze Gefangene und ich sahen einander ratlos an. Als die Musik erklang, die ein Fiedler und ein Trommler spielten, wussten wir erst recht nicht mehr, was zu tun war. Diese gequälten Geräusche ähnelten nicht im Entferntesten dem, was wir unter Musik verstanden. Einer der Matrosen machte alberne Hüpfbewegungen, um uns zu zeigen, was wir zu tun hatten. Doch noch immer standen der Mann und ich mit hängenden Armen da und rührten uns nicht.
Plötzlich sauste neben mir eine Peitsche nieder, und ich machte einen erschrockenen Satz nach rechts. Die Matrosen grölten und schlugen sich auf die Schenkel. Dann ließ der Besitzer der Peitsche sie rechts von mir knallen, und ich sprang nach links. Neuerliches Gelächter begleitete meine Hüpfer. Ich war splitternackt, und die Bewegungen meiner Brüste schienen diese Bestien besonders zu faszinieren. Ich tanzte. Ich tanzte nach der Peitsche, von rechts nach links, nach vorn,
Weitere Kostenlose Bücher