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Das Lied des Kolibris

Das Lied des Kolibris

Titel: Das Lied des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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Gruppe ab, die aus Westen kam. Sie erkannte Zé erst auf den zweiten Blick. Er ging gebeugt wie ein Greis. Großes Mitleid überkam sie plötzlich. Sie wollte schon aufspringen, ihm entgegeneilen und ihm eine der Mangos reichen, die sie vorhin aufgeklaubt hatte, doch Fernanda hielt sie am Rockzipfel zurück.
    »Bleib hier, du dummes Huhn!«, fuhr sie Lua leise an.
    Lua sah ein, dass ihre Freundin recht hatte. Sie würde nur Ärger heraufbeschwören, sowohl für Zé als auch für sich selbst, wenn sie zu ihm lief. Also hielt sie sich hinter dem Stamm des Flamboyant-Baums verborgen, wobei dieser bei weitem nicht dick genug war, um sie ganz zu verdecken.
    Trotzdem sahen die Feldsklaven Fernanda und Lua nicht, als sie sie passierten. Sie alle starrten wie Schwachsinnige auf den Boden, als koste es sie unendliche Überwindung, noch einen Fuß vor den anderen zu setzen. Als Zé an den beiden jungen Frauen vorüberkam, trat Fernanda absichtlich auf eine der herabgefallenen dunklen Schoten. Es knackte leise, und tatsächlich: Zé hob den Kopf und schaute zu ihnen hinüber. Als er Lua entdeckte, wäre sie am liebsten vom Erdboden verschluckt worden, so sehr schämte sie sich auf einmal für ihr nicht eben zurückhaltendes Benehmen. Zé lächelte schief, zwinkerte ihr zu – und schon war er vorübergezogen. Lua starb tausend Tode. Fernanda indes jubelte lautlos. Sie grinste breit und nickte der anderen aufgeregt zu. Das sollte wohl so viel heißen wie: »Siehst du? Du gefällst ihm auch!«
    Als der Zug der Feldsklaven in der Senzala verschwand, schlenderten Fernanda und Lua betont lässig zurück zur Casa Grande. Es folgte das übliche Genörgel der Sinhazinha, wo um alles in der Welt Lua gesteckt hätte, sie brauchte sie dringend. Nach dem Abendessen der Herrschaft ging Lua zur Senzala, um sich ein wenig von der Maniokgrütze mit Flusskrebsen zu nehmen, die Fernanda für sie beide und zwei weitere Mädchen zubereitet hatte, denn abends aßen sie normalerweise nicht in der Küche des Herrenhauses. Lua aß hungrig ihren Napf leer, dann ging sie zu ihrer Schlafstelle, um einfach nur in Ruhe vor sich hin zu sinnieren.
    Ein unscheinbarer Papierfetzen lag in ihrer Hängematte, wie ein abgerissenes Stück von einer vergilbten Buchseite. Sie wollte ihn gerade mit der Hand herunterfegen, weil sie dachte, er hätte vielleicht an ihrer Kleidung gehaftet und sei hier hängengeblieben, als sie bemerkte, dass er handschriftlich beschrieben war. Ängstlich sah sie sich um. Nein, es bestand keine Gefahr. Alle saßen noch beim Essen und folgten den komischen Geschichten, die die alte Maria João aus ihrer Jugend zu erzählen wusste. Verstohlen entzifferte Lua die mit Kohle und in ungelenker Handschrift gekritzelten Buchstaben.
    »Komm bei Mondaufgang zum Schweinekoben. Ich muss mit dir reden. Zé.«
    Ihr Herz flatterte vor Aufregung. Zé konnte schreiben! Und er wollte sie sehen! Was er wohl mit ihr zu bereden hatte? Ob er einer von denen war, die jede Frau gleich ins Gebüsch zerren wollten? Aber nein, dann hätte er doch kaum den Schweinekoben als Treffpunkt vorgeschlagen, unromantischer ging es ja gar nicht mehr. Allerdings war der Ort für ein geheimes Treffen gut gewählt, denn abends trieb sich kein Mensch mehr dort herum. Wie hatte Zé das so schnell in Erfahrung bringen können? Er war doch gerade erst hier eingetroffen. Und woher wusste er, dass Lua ebenfalls schreiben und lesen konnte? Das war allerdings ein Punkt, der sie nachdenklich stimmte.
    Auf alle Fälle war sie entschlossen, sich diese Gelegenheit, Zé kennenzulernen, keineswegs entgehen zu lassen, mochten seine Absichten auch noch so unlauter sein. Sie ließ sämtliche Vorsicht, die ihr bisher viel Kummer erspart und ihre Jungfernschaft bewahrt hatte, fahren. Sie wollte nicht zum Fenster oder zur Tür laufen und dadurch Aufmerksamkeit auf sich ziehen, deshalb lugte sie durch den Spalt zwischen zwei Holzbalken, um den Stand der Sonne zu prüfen. Wann ging eigentlich der Mond auf? Sobald die Sonne untergegangen war, oder nicht? Nun, bald schon wäre es dunkel draußen, und dann würde sie sich auf den Weg machen.
    Eine Ewigkeit schien zu vergehen, ehe die Nacht hereinbrach. Lua wälzte sich aus ihrer Hängematte, presste die Hände auf den Bauch und murmelte: »O Gott, ist mir schlecht«, für den Fall, dass sie jemand bemerkte. Sie hatten Nachttöpfe in der Senzala, doch wer unter argen Verdauungsstörungen oder Brechreiz litt, versuchte lieber, ins Freie zu kommen und

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