Das Lied des Kolibris
Quarantäne hatten wir, die wir die Schiffsreise überlebt hatten, wieder neue Kräfte gesammelt und sahen nicht mehr ganz so erschreckend aus wie bei unserer Ankunft. Die »Ware« war nun bereit zum Verkauf. Es kam schließlich der Tag, den wir ebenso gefürchtet wie herbeigesehnt hatten, um dem nervenzerrüttenden Warten und der bangen Ungewissheit ein Ende zu bereiten: Wir wurden zum Markt gebracht.
Ein Boot, das ein paar der schwarzen Männer ruderten, brachte uns in Gruppen von rund zwanzig Personen zum Festland. Dort trieb man uns, gefesselt und nur mit einem Lendenschurz bekleidet, durch die engen Gassen, deren bezaubernde Fremdheit wir nur beiläufig wahrnahmen, immerhin beschäftigten uns andere Sorgen. Dennoch erinnere ich mich noch genau an diesen ersten Eindruck von São Salvador da Bahia de Todos os Santos. Mir erschien der Gebrauch von Stein verschwenderisch zu sein, sogar die Straßen waren mit Steinen gepflastert. In meiner Heimat hatte ich so etwas niemals gesehen. Auch die Vielzahl an Farben beeindruckte mich. Während die Dörfer in Ngola in Erdtönen gehalten waren, gab es hier grüne, blaue, rosafarbene, gelbe und sogar violettfarbene Gebäude, die mit kunstvollen Balkonen versehen und deren Fenster mit einem vollkommen durchsichtigen Material gefüllt waren, das eine spiegelnde Oberfläche hatte wie der See, in dem bei uns daheim die Nilpferde badeten.
Wir erklommen den steilen Hügel und erreichten einen Platz, an dem ein wüstes Durcheinander herrschte. Man sah weiße Männer und Frauen in üppigen Gewändern, die wohl eine Art Häuptlingstracht darstellten, sowie schwarze Sklaven, halbnackt und in einem Pferch zusammengetrieben, zu dem unser Weg uns zweifellos ebenfalls führen würde. Man sah jedoch auch, und das erstaunte mich maßlos, schwarze bis hellbraune Menschen, die scheinbar frei und völlig unbehelligt von den Aufsehern herumliefen. Unter diesen Dunkelhäutigen wiederum sah man ärmlich Gekleidete wie opulent Gewandete. Da gab es Männer in einfachen weißen Wickelhosen und Frauen mit prachtvollen Turbanen und steifen weiten Röcken, es gab Kinder in Lumpen und solche in kleinen Imitationen der Häuptlingskleidung, man sah junge Burschen in knallbunten Beinlingen und hübsche Mischlingsmädchen mit schwerem Goldschmuck. Waren auch diese Leute Sklaven? Oder waren es Einheimische? Bisher hatte ich immer geglaubt, dieses fremde Brasilien sei nur von Weißen bewohnt, aber warum sollte es eigentlich nicht auch hier dunkelhäutige Eingeborene geben? Vollends verunsichert war ich dann, als ich ein paar Leute erblickte, die mir weder schwarz noch weiß noch eine Mischung aus beidem zu sein schienen: kleine, drahtige Menschenwesen, die ganz glattes schwarzes Haar besaßen, dunkle Haut und schräge Augen, wie ich sie weder bei einem Afrikaner noch bei einem Europäer je gesehen hatte.
Diese Eindrücke, wundervoll und fürchterlich zugleich, strömten auf mich ein, als man uns, wie ich es geahnt hatte, in den Pferch sperrte, neben dem es eine Art Bühne gab.
Welche Rolle mir in der Aufführung zugedacht war, sollte ich wenig später erfahren.
6
L ua«, rief Fernanda, »du siehst aus wie ein Gespenst!«
»Mir ist übel«, sagte Lua matt. Und genauso verhielt es sich auch. Erst die enttäuschende Begegnung mit Zé, dann die furchtbaren Schilderungen Imaculadas – das hatte ihr doch sehr zugesetzt. Sie ließ sich in ihre Hängematte fallen und schlief sofort ein. In der Nacht suchten sie entsetzliche Alpträume heim, in denen es vor wilden Tieren, schwarzen Muskelprotzen und zahnlosen Matrosen nur so wimmelte. Im Traum sah sie zähnefletschende Bestien und peitschenschwingende Affen, sie hörte ein bedrohliches Gemurmel, das sich aus all den merkwürdigen Vokabeln zusammensetzte, mit denen Imaculada ihre Geschichte spickte und deren Sinn sich Lua nur manchmal aus dem Zusammenhang erschloss. Über alldem lag der Geruch des Fegefeuers, begleitet von einem durchdringenden Wummern vieler Trommeln, einem grollenden Rhythmus, der kraftvoll und angsteinflößend war.
Jemand rüttelte sie an der Schulter. »Lua, steh auf, schnell! Die Scheune brennt!«
Sie wälzte sich aus ihrer Hängematte und brauchte einige Augenblicke, bevor sie sich in der Wirklichkeit zurechtfand. Der Brandgeruch war so scharf, dass sie kaum Luft bekam. Von draußen hörte man eine Vielzahl an Geräuschen, die durch die Löschversuche verursacht wurden. Unter anderem schlug man wohl mit Leinendecken auf brennende Balken
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