Das Lied des Kolibris
sich in dem Gestrüpp hinter dem Pferdestall zu erleichtern. Kaum war sie draußen, raffte sie ihren Rock – das Kleid hatte sie wohlweislich anbehalten – und lief leise zum Schweinekoben.
Die Tiere schliefen schon, eine unnatürliche Stille lastete auf der vom Mond beschienenen Szenerie. Die Geräusche, die sie selbst verursachte, kamen ihr vor wie ohrenbetäubender Lärm. Sie sah sich nach allen Seiten um, konnte Zé jedoch nirgends ausmachen. Ob sie irgendetwas falsch verstanden hatte? Oder ob sie zur falschen Zeit erschienen war? Hatte er sich womöglich nur einen schlechten Scherz auf ihre Kosten erlaubt? Sie schlich durch das stinkende Gelände und suchte jeden Winkel ab, doch von Zé war nichts zu sehen. Enttäuscht ließ sie die Schultern sinken und trat den Rückweg an. Sie hätte heulen mögen vor unerfüllter Erwartung, vor Wut auf sich selbst und vor Trauer um die anscheinend hässliche Wesensart des neuen Sklaven, die in vollkommenem Widerspruch zu seinem edlen Antlitz stand.
Und dann stand er plötzlich vor ihr. Wie ein Geist war er aus dem Nichts aufgetaucht, und Lua erschrak beinahe zu Tode. Er musste ihr ihre Angst angemerkt haben, denn bevor sie einen Schreckensschrei ausstoßen konnte, legte er ihr die Hand über den Mund.
»Scht. Wir müssen sehr, sehr vorsichtig sein«, raunte er ihr zu. Seine Stimme verlor auch im Flüsterton nichts von ihrer Intensität und Sinnlichkeit. Sie war rauh, männlich und tief – und ließ sie wohlig erschaudern. Er nahm seine Hand von ihrem Mund und griff ihren Arm, um sie in eine bestimmte Richtung zu führen. Sie ließ es ohne Gegenwehr zu. Irgendwie konnte sie sich nicht vorstellen, dass Zé etwas Böses im Schilde führte. Und selbst wenn: Sie befand sich in einem Zustand, in dem es ihr wahrscheinlich gefallen hätte, wenn er Dinge mit ihr anstellte, die kein Mann je zuvor mit ihr getan hatte.
Sie gelangten zu dem Gestrüpp hinter dem Pferdestall. »Falls uns jemand sieht, tun wir so, als wär uns nicht gut«, erklärte er. Er sah sich aufmerksam nach allen Seiten um, bevor er fortfuhr: »Du kannst lesen und schreiben?«
Lua nickte. Vor ihm, der es ja auch konnte, brauchte sie kein Geheimnis daraus zu machen.
»Das ist gut«, sagte er, »solche Leute brauchen wir.«
Sie verstand nicht, was er meinte, also fragte sie: »Aber du kannst es doch selber, oder?«
Erstmals an diesem Abend schenkte er ihr ein zaghaftes Lächeln. »Nein, den Zettel hat ein Freund für mich geschrieben.«
Lua war ein wenig enttäuscht. Natürlich ließ sie das keine Sekunde an seiner Klugheit zweifeln, dennoch hätte er ihr noch mehr als ohnehin schon imponiert, wenn er des Schreibens kundig gewesen wäre. Um sich ihre Enttäuschung nicht allzu deutlich anmerken zu lassen, fragte sie: »Und woher wusstest du, dass ich lesen und schreiben kann? Eigentlich weiß das kein Mensch.«
»Ist denn die alte Imaculada kein Mensch?«
»Oh«, entfuhr es Lua dümmlich.
»Keine Sorge, sie ist auf unserer Seite.«
»Was hat das alles zu bedeuten?«, begehrte Lua zu wissen.
Er musterte sie mit einem Blick, der dem ihren von vorhin sehr ähnlich sein musste. Es sprach Enttäuschung daraus, genauso wie Ungläubigkeit, ganz so, als könne er nicht fassen, es wider Erwarten mit einer dummen Kuh zu tun zu haben. »Glaubst du an die Freiheit?«, fragte er schließlich.
»Welche Freiheit?« Sein Blick zeigte ihr, dass das die falsche Antwort gewesen war.
»Die des schwarzen Volkes.«
»Oh … äh … nein. Ich meine, jeder weiß ja, dass wir hier nicht frei sind. Wobei ich für meinen Teil mich durchaus …« Sein Blick ließ sie innehalten. Was war es nur, das sie an diesem Kerl so fesselte, obwohl er doch nichts weiter war als ein Draufgänger mit Fluchtplänen? Denn dafür schien er sich ihre Schreibkenntnisse ja offenbar zunutze machen zu wollen. Um ein Minimum an Stolz zu wahren, streckte sie das Kinn vor und setzte ihre herablassendste Miene auf. »Ich kann und will dir nicht helfen. Ich genieße gewisse Privilegien, und das soll auch so bleiben. Ich will nicht einmal so genau wissen, was du planst, denn selbst das könnte mich in Gefahr bringen. Es ist sehr bedauerlich, dass dir dein Leben nicht gefällt – mir aber gefällt meines umso mehr.«
Er verzog die schönen Lippen zu einem spöttischen Lächeln. »Lua, Lua … du weißt ja nicht, was dir entgeht.«
Er brachte sie einen Moment aus der Fassung. Die Bemerkung hatte durchaus zweideutig geklungen. Wollte er sie etwa
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