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Das Lied des Kolibris

Das Lied des Kolibris

Titel: Das Lied des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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jetzt, nachdem die »Freiheit« ihr nicht verlockend genug erschienen war, mit seinem Charme betören?
    »Nein, und ich es brauche es auch nicht zu wissen.« Damit drehte sie sich um und lief davon.
    »Sie haben dich um alles betrogen«, rief er ihr leise hinterher. »Sie haben dir deine Vergangenheit und deine Zukunft gestohlen. Sie haben dich deiner Sprache und deines Namens beraubt, und sie haben …« Mehr verstand sie nicht, denn sie war mittlerweile wieder vor der Senzala angelangt.
    Lua war froh, diesem Mann, der Gefahr und Ärger ja förmlich anzog, entkommen zu sein. Doch anstatt sich sofort schlafen legen zu können, wie sie es sich wünschte, wurde sie nun mit einer weiteren Bedrohung konfrontiert: Vor dem Sklavenhaus saß Imaculada und empfing sie mit einem zahnlosen Lächeln, aus dem der Qualm ihrer Zigarre quoll.
    »Du Mbómbo kennenlernen?«
    »Wen?«
    »Hier nennen Zé.«
    Lua nickte kraftlos.
    »Ist gut Mann. Stark Mann. Sohn von Häuptling, wie Uanhenga.«
    »Er ist ein törichter Mann, Imaculada«, widersprach Lua. »Er greift nach den Sternen und wird doch immer nur Luft zu fassen bekommen.«

5
    E s waren etwa 400 Menschen an Bord des Sklavenschiffes, ein Zehntel davon gehörte zur Besatzung. Wir Gefangenen wurden auf engstem Raum nebeneinandergelegt und angekettet. Schienen uns die ersten Tage unserer Passage unerträglich, so zeigte der weitere Verlauf der Reise, dass der Mensch sehr viel mehr ertragen kann, als er von sich glaubt. Man gab uns einmal am Tag zu essen und zu trinken, hartes Brot und brackiges Wasser. Unsere Notdurft verrichteten wir an Ort und Stelle, da es uns nicht möglich war, unseren Platz zu verlassen. Schon nach wenigen Tagen suchten uns üble Krankheiten heim. Wer den ganzen Tag im eigenen Schmutz liegt oder sitzt, ohne die geringste Aussicht auf ein wenig Bewegung und frische Luft, den ereilen nicht nur körperliche Qualen, sondern auch seelische. Manche von uns verfielen in einen so tiefen und dunklen Trübsinn, dass sie sich selbst aufgaben, bevor ihre Körper es taten.
    Neben mir war eine Frau dem Wahnsinn verfallen. Sie weinte und schrie von morgens bis abends, bis ein Wärter sie erschlug und damit erlöste. Ich gestehe, dass mir der Tod der Frau anfangs selbst wie eine Erlösung vorgekommen war, denn das dauernde Geheul hatte mir sehr zugesetzt. Dann aber ließ man ihren Leichnam einfach dort verrotten. Er begann zu riechen, und erst Tage später kam ein Trupp von Männern, um ihn und andere Kadaver fortzuschaffen. Sie wurden einfach ins Meer geworfen.
    Mein Töchterchen begann zu fiebern. Ich hatte keine Möglichkeit, ihr Linderung zu verschaffen, und es verursachte mir allergrößte Pein, dem Sterben des Kindes so hilflos gegenüberzustehen. Denn dass die Kleine sterben würde, wusste ich. Die Milch in meiner Brust war versiegt, und ohne diese war der Tod meiner Tochter besiegelt. Ich schluchzte und weinte in einem fort. Dann kamen erneut die Männer, die für das Einsammeln der Leichen zuständig waren, und entrissen sie mir. Ich schrie, dass sie noch lebte, ich klammerte mich an dem Kind fest und flehte die Männer an, sie bis zu ihrem Ende in meinen Armen zu lassen, doch sie kannten kein Erbarmen. Einer der Männer nahm sie an ihrem Füßchen, so dass sie kopfüber hing wie ein totes Huhn. Als sie davongingen, sah ich, wie ihr Köpfchen gegen einen Balken stieß, und dieser Anblick ließ mich markerschütternd aufschreien. Selbst eine Leiche hatte eine solche Behandlung nicht verdient, ganz zu schweigen von einem lebenden Kind.
    Die anderen Gefangenen hatten kaum noch Mitleid übrig für mich, sie hatten selbst schlimme Verluste erfahren. Überdies hielten sie mich wohl für verrückt und glaubten nicht, dass in dem kleinen kraftlosen Körper noch Leben gesteckt hatte. Ich war kurz davor, den Verstand zu verlieren. Grauenhafte Bilder suchten mich heim, Bilder von meinem Kind, das mit einem lauten Klatschen über Bord geworfen wurde, das in dem kalten Wasser strampelte und sich verschluckte und schließlich unausweichlich in die Tiefe gezogen wurde, wo riesenhafte Kreaturen ihre süßen weichen Beinchen zerfleischen und ihre Ärmchen zerfetzen würden.
    Mein Überlebenswille schwand zusehends. Ich aß und trank nichts mehr. Ich sprach mit niemandem, schaute niemanden an und wiegte meinen Oberkörper in der Art von Schwachsinnigen vor und zurück. Ich wäre sicher bald gestorben, wäre nicht – wir mussten etwa zwei Wochen unterwegs gewesen sein – ein

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