Das Lied des Kolibris
nehmen?«
Nun musste Lua genau das tun, was sie die ganze Zeit über geflissentlich vermieden hatte. Sie betrachtete Zé und seine akrobatische Darbietung. Ihre Blicke begegneten einander. Der seine war schwer zu deuten. Es lag ein Hauch von Belustigung darin, zugleich aber strahlte er Zorn und unbändigen Stolz aus.
»Ja, er ist sehr gut«, flüsterte sie andächtig. Sie hatte die Männer der Senzala schon des Öfteren tanzen gesehen, wobei es sich, wenn kein Weißer in der Nähe war, durchaus nicht mehr nur um einen reinen Tanz handelte, sondern vielmehr um einen kunstvoll getarnten Kampf. Sie nannten ihn Capoeira. Er unterlag sehr strengen Regeln, die sie als Frau natürlich nicht kennen durfte, und er wurde immer inmitten einer
roda
, eines Kreises aus anderen Tänzern, ausgeübt, so dass man die beiden jeweils Kämpfenden – sie selber nannten sich »Spielende« – von außerhalb dieser Roda nicht beobachten konnte. Es handelte sich dabei um eine Vorsichtsmaßnahme, falls einmal ein ungebetener Zuschauer in die Nähe der Capoeiristas kommen sollte.
Lua wusste, dass die Tänzer mit gezielten Tritten und Armhieben durchaus in der Lage gewesen wären, ihren Gegner zu töten. Dass sie ihn bewusstlos treten oder schlagen konnten, hatte sie selbst schon erlebt, und dass sie einen anderen entwaffnen konnten, hatten sie an Zés erstem Tag auf der Fazenda gesehen, als er António die Peitsche fortnahm. Bei der Capoeira kam es auf Geschicklichkeit und Geschwindigkeit an, genauso wie auf Gelenkigkeit und eine Könnerschaft im Täuschen. Wem es gelang, den anderen im Unklaren über seinen nächsten Schritt zu lassen, oder ihm sogar vorgaukelte, etwas anderes tun zu wollen, als es tatsächlich der Fall war, war klar im Vorteil. Und dass Zé ein Meister in all diesen Disziplinen war, blieb niemandem verborgen, der Augen im Kopf hatte.
Es musste für Zé eine große Erniedrigung darstellen, nicht innerhalb der Roda seine Kunst ausüben zu können, sondern auf einer offenen Bühne, wo er den Weißen als »Wilder« zur Schau gestellt wurde. Er ähnelte einer gefangenen Raubkatze, die Bewegungen geschmeidig, der Blick mordlustig. Doch die Sinhazinha schien nichts davon zu bemerken, genauso wenig wie ihr auffiel, dass Zés Tanz nun zunehmend zu einer Provokation ausartete. Er bewegte die Hüften in einer obszönen Parodie des Paarungsaktes vor und zurück, und die Musiker schlugen ihre Tamburine und Trommeln dazu in einem immer schnelleren, gleichmäßigen Takt.
Hätte Lua rot werden können, wäre sie es geworden. Auch Fernanda und Lulu waren peinlich berührt, doch die Sinhazinha merkte immer noch nichts. Erst als Dona Ines in den Raum trat, angelockt von dem rhythmischen, aber unmelodiösen Getrommel, nahm das Spektakel ein abruptes Ende.
»Na, na, ganz so … ähm … animalisch muss es ja wohl nicht sein«, tadelte sie.
»Wie Ihr wünscht, Senhora«, sagte Zé mit einer formvollendeten Verbeugung, aus der grenzenlose Arroganz sprach. Wie gelang es dem Kerl bloß, sich bei aller Unterwürfigkeit noch immer einen Anstrich von Überlegenheit zu geben?
Dona Ines verließ den Raum in Begleitung ihrer Tochter, denn die Schneiderin war angekommen und hatte das Verlobungskleid mitgebracht. Lua wollte der Sinhá Eulália folgen, wie sie es seit jeher getan hatte, doch an der Tür hielt Dona Ines sie auf. »Dich brauchen wir im Augenblick nicht. Bleib lieber hier und sieh zu, dass ihr pünktlich fertig werdet. Am Nachmittag kommt der Dekorateur aus Salvador, und bis dahin müssen alle Möbel so stehen, wie sie es bei dem Fest tun sollen, damit der Mann die Girlanden an den richtigen Stellen befestigt.«
Ein Dekorateur – alle Achtung! Lua wusste, dass es solche Spezialisten gab, hatte bisher jedoch noch nie einen leibhaftig gesehen. Bei den Festen, die sie bisher auf São Fidélio miterlebt hatte, waren die Sklaven es gewesen, die aus Blumen, blühenden Zweigen, Krepppapier und Satinbändern die Dekoration gemacht hatten.
Lua knickste, drehte sich um und ging schnell wieder in den Salon zurück, um ihre Dienstbeflissenheit zu zeigen. Obwohl sie neugierig auf das Kleid der Sinhá Eulália war und obwohl es sie ein wenig ärgerte, dass man ihren Raumschmuck nicht für gut genug befand und einen Dekorateur anreisen ließ, jubilierte sie innerlich: Endlich einmal würde sie sich Zés Tanz ansehen dürfen, ohne den lauernden Blicken ihrer Herrschaft ausgesetzt zu sein.
Doch Zé tanzte schon nicht mehr. Die Kapelle spielte
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