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Das Lied des Kolibris

Das Lied des Kolibris

Titel: Das Lied des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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Gedichtband aufschlagen, entsann sie sich des Heftes in ihrer Rocktasche. Sie hätte es gern herausgenommen und noch einmal gelesen, was sie notiert hatte. Hier in der Stille des in freundlichen Farben gehaltenen Mädchenzimmers kam ihr alles, was Imaculada vor nicht einmal einer Stunde geschildert hatte, unwirklich und weit entfernt vor. Ob ihr all diese ungeheuerlichen Dinge tatsächlich widerfahren waren? Oder hatte die Alte ihre Geschichte ein wenig ausgeschmückt, um sie spannender zu machen oder um vielleicht Mitleid zu erregen?
    Lua beschloss, das Heft nicht durchzublättern – eine kluge Entscheidung, denn kurze Zeit später kam Sinhá Eulália hereingehuscht und kicherte leise. Lua hatte sie nicht kommen gehört. Abrupt erhob sie sich von dem Bett, doch ihre junge Herrin schien gar nicht zu merken, was sie getan hatte. Genauso wenig wie sie, nebenbei bemerkt, ihr ordentliches Zimmer zur Kenntnis nahm.
    »Schnell, Lua, du musst mir sofort das Haar aufstecken. Ich habe zufällig gesehen, dass Rui Alberto im Anmarsch ist. Er stellt gerade sein Pferd unter. Wir haben nicht viel Zeit, um mich einigermaßen herzurichten, also hopp, hopp, an die Arbeit.«
    Rui Alberto war der Spross eines benachbarten Fazendeiros. Lua hielt ihn für einen Nichtsnutz, wie er im Buche steht, fand ihn aber für einen Weißen sehr attraktiv. Sinhá Eulália war bis über beide Ohren in ihn verliebt. Sie schwärmte Lua manchmal bis zum Überdruss von seinem gewellten schwarzen Haar vor, von seiner maskulinen Gestalt oder von seinen blassen, vornehmen Händen. Lua hatte einmal bei einem Ball in der Casa Grande beobachtet, wie die beiden zusammen tanzten, und sie musste zugeben, dass sie ein sehr hübsches Paar abgaben. Vielleicht wären sie sogar bald ein Ehepaar. Lua wusste, dass Dom Felipe und Dona Ines einer Verbindung der beiden offen gegenüberstanden, war doch die Nachbarfazenda nach der ihren die reichste und größte in ganz Bahia. Auf »Três Marias« wurde ebenfalls Zuckerrohr angebaut, dazu Kakao und Tabak. Die beiden Senhores betrachteten einander nicht als Konkurrenten, sondern als Verbündete, die gemeinsam Preisabsprachen trafen oder abends bei einem Glas Cognac über die portugiesische Krone und ihre absurde Steuerpolitik wetterten.
    Lua löste rasch den einfachen Zopf und bürstete Sinhá Eulálias Haar kräftig durch. Für eine raffinierte Frisur war keine Zeit mehr, aber ein lockerer Knoten, befestigt mit ein paar Kämmen und Schleifen, würde schon deutlich mehr hermachen. Es war nicht leicht, die Herrin zu frisieren, denn sie zappelte pausenlos unter Luas Händen, suchte da nach einem Medaillon und griff dort nach der Schatulle mit ihren Perlenohrringen. Als die junge Sklavin schließlich ein kleines Kunstwerk auf Eulálias Kopf vollbracht hatte, hörte man auch schon die Türglocke.
    »Schnell, die Seidenstola!«, raunte Eulália.
    Lua legte sie ihr um die Schultern.
    »Und jetzt noch ein wenig Farbe ins Gesicht.« Sie kniff sich selbst in die Wangen und biss auf ihren Lippen herum, damit diese schön rot würden. »Wo in Dreiteufelsnamen hast du das Rosenwasser versteckt?«, herrschte sie Lua an, denn diese hatte zuvor so eilig alles aufgeräumt und an neuen Orten verstaut, dass sie einen Augenblick überlegen musste.
    »Lua, schnell, denk nach!«
    »Ähm … ah, jetzt fällt es mir wieder ein: auf dem Waschtisch.« Lua lief sofort hinüber, um ihr das Duftwasser zu holen, öffnete den Flakon und betupfte Eulália sanft den Hals und das Dekolleté.
    »Fertig«, seufzte Sinhá Eulália in demselben Moment, in dem es an der Tür klopfte.
    »Sinhá Eulália«, hörten sie die Stimme Fernandas, »Ihr habt Besuch. Der Sinhô Rui Alberto erwartet Euch im Salon.«
    »Oh, was für eine schöne Überraschung! Sag ihm, ich komme sofort.«
    Fernandas Schritte entfernten sich.
    »Ich lasse ihn noch ein bisschen warten«, sagte die Sinhazinha und zwinkerte Lua durch den Spiegel zu. »Das hast du mir doch eingeschärft, nicht wahr, Lua? Dass man sich rar machen muss.«
    »Genauso ist es«, antwortete diese und zwinkerte nun ihrerseits dem Spiegelbild ihrer Herrin zu. »Männer sind Jäger. Man darf sich ihnen nicht auf dem Präsentierteller anbieten.«
    »Ach, was soll’s!«, rief Sinhá Eulália plötzlich aus und erhob sich. »Ich sterbe vor Neugier, was ihn hierherführt! Ob er heute um meine Hand anhalten wird?«
    »Dann hätte er doch wohl eher das Gespräch mit Eurem Herrn Vater gesucht«, wagte Lua einzuwenden, doch

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