Das Lied des roten Todes
versuchen, ihre Gesichter zu schützen. Einige schreien, als scharfe Glasscherben herunterfallen.
»Ich will ihn lebendig«, ruft Elliott und stürzt sich in die Menge. Seine hellen Haare leuchten im Kerzenlicht.
Ich lege Will eine Hand auf den Arm und gestatte Elliott, an uns vorbeizugehen. Die Tür, auf die er zueilt, ist eine, die ich vorher erkundet habe. Und Prospero ist lange weg.
Wie in den ersten beiden Räumen des Balls verbirgt sich auch hier hinter den Schatten auf der Bühne eine weniger offensichtliche Tür. Wir müssen gegen die Menge ankämpfen, die in die entgegengesetzte Richtung läuft, aber schließlich ziehe ich Will in einen schwarzen Korridor. Nur wenige Schritte von uns entfernt drängen Wachen Vater in seinem tödlichen schwarzen Umhang gegen die Wand.
»Dr. Phineas Worth, Sie sind festgenommen.«
»Nein!« Ich stürze mich auf sie.
Eine der Wachen schüttelt den Kopf. »Wir haben unsere Befehle. Treten Sie zur Seite, Miss Worth. Ihr Vater ist ein Mörder.« Aber keiner der beiden Männer rührt mich an. Sie denken wahrscheinlich immer noch, dass Elliott und ich …
Will versucht, an den Wachen vorbeizukommen, aber einer davon hält ihn zurück. Während sie abgelenkt sind, umarme ich meinen Vater.
Er zieht den dunklen Umhang aus und legt die Maske ab und drückt mir beides in die Hand. »Tu, was getan werden muss.«
Die Wachen trennen uns voneinander, aber sie nehmen mir nicht den Umhang ab.
Ich halte das Bündel fest und spüre etwas in der Tasche. Mein Herz zieht sich zusammen.
Ich sehe zu Vater hin, als die Soldaten ihn auf den violetten Raum zuschieben. Er nickt. Als sie weg sind, greife ich in die Tasche und ziehe ein Glasfläschchen heraus. Es wirkt leer, als ich es ins Licht halte, aber ich weiß, dass da drinnen etwas Schreckliches lauert. Denn das Fläschchen ist nicht nur mit einem Korken verschlossen, sondern zusätzlich auch noch mit Wachs versiegelt. Will holt scharf Luft.
»Hast du vor, mich davon abzuhalten?«, frage ich ihn. Ich weiß, dass er eine feste Meinung über Mord und Tod hat. Über richtig und falsch.
»Nein«, sagt er. »Aber ich gehe mit dir.«
Nichts hätte ich mir mehr gewünscht als das.
Ich lasse den Umhang und die Maske des Roten Todes fallen. Das Fläschchen fest in einer Faust führe ich Will durch eine andere Tür. Und jetzt haben wir das Zentrum von Prosperos Labyrinth erreicht.
Die Wände, der Boden, die Decke, alles ist schwarz. Alles, abgesehen von den Fenstern, die das schreckliche Karmesinrot von Blut tragen.
Dieser Raum ist kleiner als die anderen, und er ist bereits von Höflingen bevölkert, die vor meinem Vater und Elliotts Wachen geflohen sind. Wir schlängeln uns durch die Menge, bahnen uns den Weg, wenn es sein muss. Wie der äußere Raum ist auch hier alles schwarz, angefangen vom Holzboden bis hin zu den Wandpaneelen. Handschellen säumen die Wände. Folterinstrumente. Und über allem dräut die Uhr – ebenholzschwarz, groß, bedrohlich.
Prospero kauert im Schatten der großen Uhr. Niemand erkennt ihn, denn diese Leute haben ihn nie gesehen, wenn er sich duckt. Sie rechnen nicht damit, dass der erbärmliche, zitternde Mann, dem Tränen über das Gesicht laufen, ihr grausamer, hämischer Prinz ist.
Elliott hat mich gewarnt, wie schwer es sein würde, jemanden zu töten. Selbst diesen Mann, der den Tod mehr als alle anderen verdient. Prospero und ich starren einander an.
»Elliott kommt.« Will legt mir eine Hand auf das Handgelenk. Die Bewegung erinnert mich an den schwarzen Samtbeutel, der dort hängt. An Prosperos Verspottung von Anstand und Liebe. An seine Zerstörung meiner eigenen Familie und so vieler anderer. Ich ziehe in Erwägung, den Inhalt über dem Kopf des Prinzen auszuschütten, aber diese Gegenstände sind zu kostbar für mich.
»Sag allen, dass sie den Raum verlassen sollen«, sage ich zu Will. »Alle müssen raus.«
Will zögert nicht. »Bewegt euch!«, ruft er. »Raus hier, sofort, oder ihr begegnet dem sicheren Tod!«
Die meisten fliehen, aber einige warten; sie rechnen mit irgendeiner Art von Darbietung. Sie sind schon zu lange an Prosperos Hof.
Ich lege die letzten Schritte zurück, breche das Wachssiegel mit dem Fingernagel. Ich bleibe stehen, als meine Schuhspitze Prosperos Seidenjackett berührt. Er zieht seinen Arm weg, kauert sich noch immer in den Schatten der Uhr.
Ich kratze an dem Korken, um ihn aus dem Fläschchen zu kriegen, aber er bricht ab, und zwar so weit unten, dass ich nicht
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