Das Lied des roten Todes
stattlichen Bäume noch stehen, sind die stattlichen Gebäude eingestürzt und bestehen nur noch aus weißen Trümmerbergen hinter von Sprüngen durchzogenen Marmorsäulen.
Ein paar sind vollständig ausgebrannt. Elliott hat seine alte Wohnung in Brand gesteckt, bevor wir gegangen sind. Vielleicht ist das Feuer auf andere Gebäude übergesprungen. Viele Fenster sind eingeschlagen, Glassplitter glänzen im Gras und auf den Straßen. Die Wände des Forschungstrakts sind von Gewehrfeuer beschädigt.
Ich höre den Bach gurgeln, bevor wir ihn erreichen. Das Geräusch von fließendem Wasser wirkt inmitten all der Zerstörung beruhigend, aber am Ufer ist niemand. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Vater einfach dasitzt und darauf wartet, dass ich zurückkehre. Trotzdem bin ich enttäuscht. Oberhalb des Bachs, an der Stelle, wo Vater normalerweise die Fische gefüttert hat, befindet sich ein handbemaltes Schild: NIEDER MIT DER WISSENSCHAFT. WISSENSCHAFTLER SIND MÖRDER .
»Der Wissenschaftler ist ein Mörder«, stimmt Elliott zu, aber er hält den Mund, als er meine Miene sieht. Will sagt gar nichts.
»Werfen wir einen Blick hinein«, sagt Elliott und führt uns zur Seite des Forschungstrakts. Er probiert eine Tür aus, und da das Schloss zerbrochen ist, schwingt sie weit auf. Der Geruch im Flur ist überwältigend. Ich lege eine Hand an meine Maske, und meine Augen beginnen zu tränen.
»Jemand hier?«, ruft Elliott.
»Niemand, der auch nur noch halb am Leben ist, würde hierbleiben«, bringt Will erstickt heraus. Eine Leiche liegt lang ausgestreckt im Flur.
Elliott nimmt meinen Arm und versucht, mich nach draußen zu ziehen. »Will kann nachsehen. Er würde ihn erkennen –«
»Nein.« Ich lasse nicht zu, dass sie mich beschützen.
»Lass sie nachsehen«, sagt Will. »Sie muss es wissen.«
»Außerdem«, sage ich, nachdem wir über die Leiche gestiegen sind und ich wieder etwas klarer denken kann, »ganz egal, was für Leichen wir finden … Vater wäre nicht am Roten Tod gestorben.«
Wills dunkle Brauen heben sich. Er weiß nichts von dem winzigen Fläschchen, das Vater mir gegeben hat, das mich – vielleicht – vor dem Roten Tod schützen kann. Wenn wir ihn finden können, kann er vielleicht die gleiche Medizin für die Kinder herstellen. Und für Will und Elliott.
Wir kommen an mehreren größeren Vorlesungssälen vorbei, in denen Decken und weggeworfene Kleidung auf dem Boden liegen, aber jetzt scheint alles verlassen zu sein. An den Wänden von einigen Räumen sind Schaubilder und Tabellen mit lateinischen Begriffen, die Vater verstehen würde. Ich verstehe sie nicht.
Unter einem dieser Schaubilder befinden sich andere Bemerkungen, Botschaften für die Leute, die hiergeblieben sind. Zeiten und Orte für Treffen. Ich strecke die Hand aus, um den Zettel zu berühren, der von einer Verabredung irgendwann im letzten Winter kündet.
Wir durchsuchen alle Räume. Nichts.
Elliott sieht, wie enttäuscht ich bin. »Es war der beste Ort, um anzufangen«, sagt er. »Die Universität ist riesig, Araby. Hunderte von gemieteten Zimmern in den Studentenwohnheimen. Wir werden weitersuchen, und ich kenne einen Mann, der uns helfen kann. Wir werden die Akkadian Towers so bald wie möglich überprüfen.«
»Wir haben vier Tage, bis April kommt.« Wills Ton ist zuversichtlich. »Das ist viel Zeit.«
Wir verlassen das Gebäude durch die breiten Doppeltüren des Vordereingangs. Darüber stehen die Worte: MACHT EXPERIMENTE MIT DEM WISSENSCHAFTLER. ZEIGT IHM, WIE ES SICH ANFÜHLT .
Ich starre die Worte lange Zeit an. Es mag sein, dass der Rote Tod Vater nichts anhaben kann, aber das bedeutet nicht, dass er in Sicherheit ist. Er wird alles tun, damit er sich weiter vor solchen Leuten wie denjenigen, die das geschrieben haben, versteckt halten kann. Er könnte überall sein. Möglicherweise finden wir ihn nie.
Aber was, wenn er mich finden könnte?
»Wo könnte ich Farbe herbekommen?«, frage ich.
»Ich bin sicher, dass Will welche finden kann.« Elliott wirft Will einen herausfordernden Blick zu; vielleicht erinnert er ihn an sein Versprechen, Befehle zu befolgen.
»Ich bin gut darin, Dinge zu finden«, bestätigt Will. »Du willst etwas Dunkles, um deine eigene Botschaft auf die Wände zu malen?«
Er kann mich zu gut deuten. Ich nicke.
»Wir werden uns aufteilen«, sagt Elliott. »Es wird schon spät. Mein Bekannter wird seine Tür nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr öffnen. Wir treffen uns in einer
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