Das Lied des roten Todes
Vater auf der Schwelle stehen. Aber natürlich ist der Mann, der in dem Appartement lebt, nicht mein Vater, sondern einfach nur ein älterer Gentleman mit einem weißen Bart.
»Der Neffe des Prinzen«, sagt der Mann und klingt weder überrascht noch begeistert. Aber Elliott wappnet sich, er strafft die Schultern, bevor er mich in den Raum schiebt und die Tür hinter uns schließt.
Der Raum ist spärlich möbliert; es gibt nur einen billigen Schreibtisch und zwei wacklige Stühle – und einen Durchgang, der vielleicht zu einem Schlafzimmer führt, oder eventuell auch zu einer Küche.
Ich mustere das runzelige Gesicht des Wohnungsinhabers, aber er wirkt kaum bedrohlich. Was macht Elliott so nervös?
»Dann folgst du also den Fußstapfen deines Onkels und eroberst Städte?«, fragt er.
Elliott nickt. Dies ist das erste Mal, seit wir wieder in die Stadt zurückgekehrt sind, dass er nicht richtig stolz auf seine Rolle ist.
»Hast du das Schreiben aufgegeben? Ich hatte immer gehofft, deine Schilderung des Tages zu lesen, an dem wir beide uns begegnet sind. Aber dann habe ich gehört, dass du alles verbrannt hast, was du zurückgelassen hast.«
»Wie immer hast du richtig gehört. Ich kämpfe … für die Stadt. Die Dinge werden besser werden, wenn ich wieder die Kontrolle übernommen habe.« Seine übliche Arroganz sickert allmählich in ihn zurück.
»Dein Onkel hat dich ausgebildet, damit du seine Arbeit fortführen kannst.«
»Wir wissen beide, was mein Onkel getan hat«, sagt Elliott. »Gehen wir nach unten.«
»Das Mädchen bleibt hier.« Der Mann beäugt mich misstrauisch.
»Ich gehe dahin, wo er hingeht«, sage ich.
Ich rechne mit einem Streit, aber der Mann dreht sich einfach nur um und führt uns nach unten. Elliotts Gesichtsausdruck wirkt gequält, als würde das schnelle Nachgeben des Mannes ihn verletzen.
»Du wirst die Tür zum Arbeitsraum aufschließen müssen«, sagt der Mann; er dreht sich zu Elliott um und hebt die Hände. Ich schnappe nach Luft – das Geräusch klingt laut in dieser kleinen, unterirdischen Kammer. Seine Hände sind gar keine richtigen Hände – eher eine formlose Masse, als gäbe es nicht einen einzigen Knochen unter dem vernarbten Fleisch.
Elliott zuckt zurück, als wäre er geschlagen worden. Tatsächlich sieht er noch schlimmer aus als gestern, als Will ihn richtig geschlagen hat. Als er seine Stimme wiederfindet, bekommt er nur ein ersticktes »Natürlich« heraus.
Elliott dreht eine Reihe von Schlüsseln herum und öffnet vorsichtig die Tür. Der Mann führt uns durch seinen Keller zu einem anderen, schmaleren Zugang; von der anderen Seite ertönen gedämpfte Geräusche, als würde sich dort etwas bewegen. Als er die Tür öffnet, strömt Licht in den Keller. Es stammt von unzähligen, reihenweise angeordneten Gaslampen im Raum dahinter. An der Wand sind Uhren aufgereiht, und es gibt Tische voller Zahnräder und Getriebe in allen Größen und glänzenden metallischen Schattierungen. Die Uhren ticken, und ihre Teile drehen sich. Als wir eintreten, erkenne ich verwundert, dass sie alle auf genau die gleiche Zeit eingestellt sind, dass die abertausend Teile sich alle zugleich bewegen. Es ist erstaunlich.
»Ich mache Uhren«, sagt der Mann mit einem halben Lächeln. »Oder er tut das.« Ein Junge sitzt an einem niedrigen Tisch und baut mit geschickten Fingern Uhrwerke zusammen.
An der gegenüberliegenden Wand steht ein breiter Tisch mit einem Sortiment nicht zusammenpassender Stühle. Vor der Seuche muss dies ein wunderbarer Ort für Studenten gewesen sein, die sich versammeln wollten.
»Die Domäne von Künstlern, Gelehrten und Dichtern.« Elliott klingt wehmütig.
»Sie treffen sich immer noch hier. Die Gruppe, die du gegründet hast«, sagt der Uhrmacher.
Aber wir haben keine Zeit für Nostalgie. Die Uhren ticken; es wird spät. Wir haben Will gesagt, dass wir in einer Stunde zurück sein werden.
»Haben Sie etwas von Dr. Phineas Worth gehört?«, frage ich, da dies der Grund unseres Besuches ist. »Dem Wissenschaftler, der die Masken erfunden hat?«
»Ich habe viele Dinge über ihn gehört«, erwidert der Uhrmacher, und ich fühle mich krank, warte darauf, dass er mir sagt, dass mein Vater tot ist.
»In letzter Zeit allerdings nicht. Das Letzte, was ich gehört habe, war, dass er vor einer Woche von Prosperos Soldaten vom Campus verjagt worden ist.«
Elliott und ich wechseln einen Blick. Das war das letzte Mal gewesen, dass wir meinen Vater gesehen
Weitere Kostenlose Bücher