Das Lied des roten Todes
je zuvor.
April packt mich am Arm. »Wir sollten darauf achten, dass wir nicht auffallen«, sagt sie. »Elliott und ich kannten ein paar Verstecke, als wir hier gelebt haben.«
»Zeig sie mir.«
Aber wir stecken im Strom von Hunderten von Leuten, die alle in die gleiche Richtung wollen. Wir können nicht einfach kehrtmachen und den Raum verlassen, ohne aufzufallen. Eine Dame in einem gewaltigen Kleid schiebt sich zwischen uns, und dann ist April verschwunden.
Meine Mutter steht neben Prosperos Thron. Ihr Gesicht ist weiß. Sie macht eine Geste, als wollte sie mich wegscheuchen. Prospero lächelt. Mir wird schlagartig kalt. Aber noch während ich mich umdrehe, drängen weitere Leute in den Raum, und die Türen schließen sich. Ich sitze in der Falle.
Alle folgen dem Blick, den Prospero auf mich richtet. Ich weiche zurück, bis ich gegen die großen Holztüren stoße, aber sie packen mich, schieben mich zu einer Stelle mit einem roten X auf dem Boden. Die Menge zieht sich zurück, als eine Schlinge geräuschlos von der Decke fällt. Bevor ich reagieren kann, hat sie mir jemand über den Kopf gestreift und an meinem Hals festgezurrt.
Ich stehe vollkommen still da, versuche, ruhig zu atmen, aber ich kann meine Lunge nicht richtig füllen. Mein Messer steckt noch immer im Stiefel, aber wie soll ich da drankommen?
Und dann wird die Schlinge langsam nach oben gezogen.
»Ich hatte ein paar hübsche Kinder, die heute Abend für uns hätten tanzen können, aber die Tochter des Wissenschaftlers hat uns dieses Vergnügens beraubt«, sagt Prospero. »Wir werden sehen, welche Art Belustigung sie uns bieten kann.«
Mutter schreit auf. Ich stehe auf den Zehenspitzen, würge und greife nach dem Seil. Ich kann den Kopf nicht drehen, aber mein Blick findet sie. Bedienstete halten sie zurück, als sie versucht, zu mir zu laufen. Dann streckt sie ihre Hand aus und bietet sie dem Prinzen. »Nicht sie.«
Die Höflinge um mich herum murmeln erwartungsvoll.
»Deine mütterliche Zuneigung gereicht dir zur Ehre.« Der Prinz lächelt, und die Bediensteten lassen sie los. Tränen laufen ihr übers Gesicht.
Ein Junge mit einem Hammer wird auf das Podest geschoben. Mutter streicht ihm mit der linken Hand über die Haare. Ihre rechte ruht auf der Armlehne von Prosperos Thron. Ich begreife sofort, was geschehen wird. Nein! Ich kann meine Finger nicht zwischen das raue Seil und meine Kehle bekommen, aber ich höre nicht auf, es zu versuchen.
»Mrs Worth hat ihre Entscheidung getroffen. Ihre Tochter ist ihr weit wichtiger, als meine Gäste zu unterhalten. Also braucht sie ihre Hände nicht mehr.«
Die Höflinge drängen sich nach vorn. Mutter sieht sie mit kühler Verachtung an. Der Junge hebt den Hammer und sieht den Prinzen an, der nickt. Ich schreie, als der Hammer auf Mutters Hand saust, aber es kommt nur ein Krächzen heraus.
Als der Junge den Hammer erneut hebt, zittert er so sehr, dass ich glaube, er wird ihn fallen lassen.
»Er ist neu«, flüstert jemand.
Dre Junge schlägt erneut mit dem Hammer zu. Wieder schreie ich, aber meine Kehle brennt.
Plötzlich wird die Schlinge schlaff, und ich falle auf die Knie. Ein Gehstock fällt neben mir auf den Boden. In der Stille hallt das Geräusch durch den Saal. Elliott. Er ist gekommen. Um mich zu retten. Keuchend schaue ich hoch, reiße mir das Seil von der Kehle. Es ist nicht Elliott. Will steht zwischen den Höflingen, hält die dünne, scharfe Klinge in der Hand, die in dem Stock verborgen war.
»Ist dies das, was an Ihrem Hof als Unterhaltung gilt?«, fragt er. Seine Stimme klingt ruhig und vernünftig.
Er hält mir eine Hand hin, ohne den Blick auch nur eine Sekunde von Prospero zu nehmen. Ich ergreife sie und stehe mühsam auf. Prospero lächelt. Alle, die etwas Verstand besitzen, würden jetzt laufen. Aber Will rührt sich nicht, und ich glaube ohnehin nicht, dass wir weit kommen würden.
»Ich habe so viele Geschichten über diesen wundervollen, erstaunlichen Ort gehört«, sagt Will. »Ist es das, was Sie beeindruckt? Zu sehen, wie die Hand einer Frau mit einem Hammer zertrümmert wird?«
Der Prinz schüttelt langsam den Kopf, als wäre er irgendwie von ihm enttäuscht. Ich stehe so dicht bei Will, dass er spüren muss, wie stark ich zittere.
Will sieht mich schließlich an, und ich sehe, dass er genauso viel Angst hat wie ich. In einer geschmeidigen Bewegung bringt er uns dazu, auf eine kleine Tür an der Seite des Saals zuzurennen. Aber wir sind nicht schnell genug.
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