Das Lied des roten Todes
bin.
Ich sehe mich in dem Zimmer um und betrachte die Strukturtapete, die Spitzendeckchen unter den Öllampen. Es ist warm und einladend hier, bis ich die vergitterten Fenster sehe. Das Klavier beherrscht den Raum. Als Elliott mich unabsichtlich hierhergebracht hat, habe ich daran erkannt, dass dies ihr Gefängnis ist.
»Ich habe in diesem Zimmer deine Kindheit und Finns letzte Jahre verpasst«, sagt sie. Ihre Stimme klingt sachlich. Als würde sie damit rechnen, dass ich sie dafür verurteile, dass sie hier gefangen ist.
Und das habe ich auch jahrelang getan. Ich dachte, sie hätte ihre Zeit lieber mit ihren reichen Freunden verbracht, statt mit mir und Finn im Keller zu wohnen.
»Es tut mir leid«, sage ich. »Es tut mir so leid.« Ich breche auf dem Teppich vor ihren Füßen zusammen, und sie streicht mir mit der Hand sanft über die Haare. Sie sagt noch nicht einmal etwas zu der unnatürlichen Farbe. Es ist Wochen her, seit ich sie gesehen habe, und Jahre, seit ich mich von ihr habe trösten lassen. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal geschlafen habe. Ich weiß, dass ich für April eine Möglichkeit finden muss, zu entkommen und Elliott eine Nachricht zu überbringen. Und ich muss diesen Mann vernichten, der meine Familie zerstört hat. Aber im Augenblick lasse ich zu, dass sie mich in ihr Schlafzimmer führt und ins Bett steckt. Während ich wegdämmere, schiebt ihre kühle Hand die Haare auf meiner Stirn zurück, und dann küsst sie mich auf die Wange.
Eine Kakophonie von hämmernden Geräuschen weckt mich einige Zeit später. Als ich zum Fenster trete, kann ich unmöglich die Erinnerung daran abschütteln, wie Elliott seine Hände auf meine Schultern gelegt hat, als ich das letzte Mal hier gestanden habe, und sanft meine Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Fluchtwege gelenkt hat. Die jetzt vielleicht alle verschwunden sind.
»Ich bin froh, dass du wach bist«, sagt Mutter hinter mir. »Bei dir muss Maß genommen werden, wegen des Kleides für den Ball.« Eine Frau sitzt im Wohnzimmer und wartet mit Maßbändern und Nadeln.
Die Schneiderin nimmt zuerst bei Mutter Maß, schnalzt mit der Zunge und erklärt, dass Mutter abgenommen hat. Und dann nimmt sie bei mir Maß, schreibt Zahlen in ein kleines Buch.
»Die Kleider werden morgen Nachmittag fertig sein«, sagt die Frau, und dann ist sie weg, und Mutter und ich sind allein. Es ist unbehaglich still.
Sie hat mich noch nicht nach Vater gefragt. Will sie gar nicht wissen, ob er noch am Leben ist? Kümmert es sie? Oder hat der Rote Tod ihr schließlich so viel abverlangt, dass sie nicht mehr vergeben kann?
»Normalerweise spiele ich nachmittags«, sagt sie zu mir.
»Behält er dich deshalb hier, damit du Klavier spielst?« Ich weiß selbst nicht so recht, was ich sie damit eigentlich frage oder was ich wissen will. Aber ich verspüre das Bedürfnis, ihre Beziehung zu Prospero ins rechte Licht zu rücken. Wie ist es passiert? »Wie hast du ihn kennengelernt?«
»Ich kenne ihn schon, seit wir Kinder waren. Er mag es, jemanden um sich zu haben, der aus diesem Teil seines Lebens stammt. Schon damals war er ein Getriebener, wenn auch nicht so wie … jetzt.«
Ein Getriebener? Ist das die Art und Weise, einen Größenwahnsinnigen zu beschreiben? »Vater ist auch ein Getriebener«, sage ich, denn ich will herausfinden, wie sie dieses Wort definiert.
»Ja. Die beiden Männer meines Lebens sind von einem höheren Ziel verzehrt worden.«
Einem höheren Ziel? Sie haben zusammen daran gearbeitet, die Welt zu zerstören. Sie sieht den Ekel auf meinem Gesicht, und ausnahmsweise einmal tritt sie für sich ein.
»Ich habe mich nicht dafür entschieden, seine Geisel zu sein. Ich habe versucht, seine Freundin zu sein, weil es der einzige Weg war, wie ich helfen konnte. Ich habe ihn davon abgehalten, Menschen zu verletzen, wenn es mir möglich war. Ich habe neben ihm im Thronsaal gestanden und ihn gebeten aufzuhören. Gelegentlich hört er auf mich.«
»Ich mache dir keinen Vorwurf«, sage ich. »Es muss schrecklich gewesen sein.«
»Es spielt keine Rolle. Du bist am Leben. Und wir müssen dafür sorgen, dass das so bleibt.«
Ich umarme sie rasch. »Tut mir leid«, flüstere ich wieder.
»Begleite mich«, sagt sie. »Ich spiele für die jungen Damen, die sich nachmittags gern im Tanzen üben. Ich möchte dich nicht aus den Augen lassen.«
Seit Finn gestorben ist, habe ich sie jedes Mal zurückgewiesen, wenn sie sich mir gegenüber
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