Das Lied des roten Todes
Flugblatt, in dem er angeklagt wird, die Seuche geschaffen zu haben. Ich reiche das Pamphlet meiner Mutter und sehe zu, wie sie es liest. Ihre Wangen färben sich pinkfarben.
»Hat er gewusst …«, setze ich an, aber ich bringe es nicht über mich, die Frage zu vollenden. Hat er gewusst, dass sie Menschen töten würde? Dass sie beinahe alle Menschen töten würde?
»Er hatte Alpträume. So viele Alpträume. Danach …« Sie zerknüllt das Pamphlet in ihrer Faust, zerreißt es und lässt die einzelnen Stücke auf den Boden fallen. »Es gab eine Zeit, da hat er tatsächlich eine Schlinge in unserem Schlafzimmer aufgehängt. Ich habe ihn angefleht, damit aufzuhören, und ihn daran erinnert, dass du noch am Leben bist.«
Ich hatte Angst davor gehabt, so etwas von ihm zu hören, aber es ist sogar noch schlimmer, nun, da ich es von ihr erfahre.
»Die Schuld hat ihn erdrückt«, flüstert sie. »Er hat nie jemandem wehtun wollen. Deshalb wollte er unbedingt die Masken erschaffen. Und dann Finn –«
Sie verstummt, als ein Schlüssel im Schloss herumgedreht wird. Ich springe auf, aber Mutter scheint wie erstarrt zu sein, und April bleibt am Fenster. Eine Gruppe von Dienerinnen rauscht mit Bündeln aus Satin und Schleifen herein.
Ich beuge mich dichter an Mutters Ohr. »Was werden sie mit Will machen? Mit dem, der mich letzte Nacht gerettet hat?«, frage ich leise.
»Er hat dich nicht gerettet, Araby«, sagt Mutter. »Die Stadt wird von zwei Seuchen heimgesucht. Wir sind in diesem Palast gefangen, und Prospero hat sich entschieden, dich für seine Belustigung zu benutzen. Was solche Dinge angeht, ändert er seine Meinung nie. Niemand von uns ist gerettet worden.« Es ist keine Antwort. Sie kann mir nicht sagen, dass sie glaubt, dass Will verletzt oder tot sein muss. Ich weigere mich zu glauben, dass er tot ist.
Die Dienerinnen trennen uns voneinander und schütteln die Kleider aus.
Aprils Kleid ist silbern, weich und fließend. Es erinnert mich an das, das ich aus Elliotts Ankleideraum genommen habe, auch wenn das hier aus Satin und nicht aus Seide ist.
»Sie werden darin wunderschön aussehen«, sagt eine kleine Dienerin zu ihr. Selbst an diesem schrecklichen Ort gibt es freundliche Menschen.
»Das bin ich bereits, aber dieses Kleid ist wirklich schön.« April lächelt. Aber sie lehnt an der Wand und rührt sich nicht, macht keine Anstalten, das Kleid anzufassen oder es richtig zu bewundern. Ich habe Angst, vor den Dienerinnen zu viel Sorge um sie zu offenbaren. Trotzdem behalte ich sie im Auge, so gut es geht. Sie ist sehr blass.
Danach heben sie ein Kleid hoch, das den gleichen Blauton hat wie die Strähnen in meinen Haaren. Es ist hübsch. Ich strecke die Hand aus und berühre es, aber sie ziehen es weg und schieben uns aus unserem Turmgefängnis hinaus und einen Gang entlang. Dann geht es zwei Wendeltreppen hinunter zu einer Reihe miteinander verbundener Räume, die mit Badenischen ausgestattet sind.
Ich halte Ausschau nach einer Möglichkeit wegzulaufen, aber Wachen flankieren uns die ganze Zeit.
Der Raum ist von Dampf erfüllt, und hinter meiner Maske bildet sich Kondenswasser, aber ich nehme sie trotzdem nicht ab. Die Dienerinnen fangen an, meine Haare zu entwirren. Wenn sie April kämmen, werden sie sehen, dass sie die Seuche verbirgt.
Noch während ich versuche, mir einen Plan einfallen zu lassen, sammeln sie sich um sie herum, äußern sich laut über ihr wogendes, langes blondes Haar. Eine bringt eine Brennschere und fängt an, die Haare auf ihrem Kopf aufzutürmen.
»Nein …«, setze ich an.
»Lasst es unten.« Aprils Stimme klingt beiläufig, und sie wirft mir einen Blick zu.
Ich mustere ihre Gesichter. Diese Mädchen sind jung; sie kommen vielleicht sogar aus Prosperos Waisenhäusern. Und so sind sie uns vielleicht wohlgesonnen. Möglicherweise auch Will gegenüber. Ich habe nichts dagegen, sein gutes Aussehen zu benutzen, wenn es uns hilft, der Gefahr zu entkommen.
»Ihr wisst, was letzte Nacht mit mir und meinem Freund im Thronsaal passiert ist«, fange ich an.
Sie antworten nicht, aber sie alle werfen mir einen Blick von der Seite zu, und dann sehen sie einander an.
»Lebt er noch?«, frage ich. »Wisst ihr, wo er ist?«
Ein Mädchen starrt auf die roten Striemen an meinem Hals. Als sie etwas Lotion in meinen Haaren verteilt, beugt sie sich zu mir und flüstert: »Er ist in der Zelle unter den Privatgemächern des Prinzen. Dort hält er die besonders gefährlichen Gefangenen
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