Das Lied des Todes
Ernust.
«Ja, die sehe ich. Na und? Es ist nur eine Sklavin mit einem Strick um den Hals.»
«Kommt Euch die Frau bekannt vor?»
Worauf wollte der Hauptmann hinaus? Thankmar kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. Es war eine junge Frau. Sie hatte ein flaches Kinn und blondes Haar, das auf dem Hinterkopf zu einem Knoten zusammengesteckt war. Mit etwas Wasser und einem Kamm würde man sie wohl in ein ansehnliches Weib verwandeln können – in ein sehr ansehnliches Weib sogar. Aber das alles erklärte nicht Ernusts Geheimnistuerei.
Da kam Thankmar mit einem Mal der Schmetterling in den Sinn, den er auf der Eresburg gefangen hatte. Er hatte den Schmetterling zum Gepäck getan und seither nicht mehr daran gedacht. Warum tat er es ausgerechnet jetzt? Beim Anblick dieser Sklavin?
Das Licht war noch hell genug, um die Gesichtszüge der Frau eingehend betrachten zu können. Thankmar spürte ein Kribbeln im Bauch. Irgendetwas war mit dieser Frau. Aber was? Das Kribbeln verstärkte sich zu einem unangenehmen, drückenden Gefühl in seinem Magen.
«Rede endlich, Soldat, wer ist das?»
«Ich bin mir nicht vollkommen sicher. Aber sie sieht dem jungen Mann auffallend ähnlich, den wir im vergangenen Herbst beinahe auf dem Markt am Danewerk …»
Ein heiseres Stöhnen drang aus Thankmars Kehle. «Meinst du etwa den Sohn der Seherin?»
«Ja. Erinnert Ihr Euch an ihre Kinder, damals in Haithabu?»
Natürlich tat Thankmar das. Niemals würde er auch nur ein einziges Detail jenes Tages vergessen, an dem die Seherin von den Toten auferstanden war. Auch ihre Kinder würde er nicht vergessen, das kleine Mädchen und die anderen beiden …
Thankmar stockte der Atem. Die beiden größeren waren Zwillinge gewesen. Man hatte kaum unterscheiden können, wer der Junge und wer das Mädchen war.
Der Hund ließ ein klägliches Winseln hören.
«Die Tochter der Seherin …»
«Herr, ist Euch nicht wohl?»
Ernusts Stimme drang wie aus weiter Ferne an Thankmars Ohren. Der Druck in seinem Magen wurde stärker. Thankmar stieß einen ächzenden Laut aus und ging in die Knie. Er presste die Fäuste gegen seinen Bauch, würgte, stöhnte. Dann wanderten die Schmerzen seinen Körper hinauf, breiteten sich im Kopf aus und hämmerten einen brutalen Rhythmus gegen die Schädeldecke. Und dann sprang ihn die Seherin an, drängte mit aller Gewalt nach vorn. Ihre schrille Stimme hallte in seinem Kopf wider, wollte ihn zum Platzen bringen.
Der Hund ergriff jaulend die Flucht.
Thankmar erbrach sich.
«Sagt doch was, Herr. Was geschieht mit Euch?»
Thankmar wischte sich den Mund ab. Seine Hände zitterten. «Es … geht gleich wieder …»
Ernust wusste nichts von den Anfällen, er durfte nichts davon wissen!
«Das war der gebratene Fisch vorhin», brachte Thankmar keuchend hervor. Er richtete sich mühsam auf. «Ich werde mir den Koch vornehmen.»
Ernust sah ihn von der Seite an.
«Sind sie noch da?», fragte Thankmar.
Ernust nickte.
Thankmar atmete tief ein. An den Tischen hatte sich nichts verändert. Die Männer tranken, und die Sklavin saß still dabei.
Die Tochter der Seherin!
War das wirklich möglich? So viele Jahre hatte er die Mark nach der Seherin absuchen lassen, und nun saß ihre Tochter vor einer Bierschwemme im Hafen der Diusburg. Eine Sklavin! Im ersten Augenblick erschien ihm das alles vollkommen abwegig. Aber dann dachte er an sein von Gott bestimmtes Schicksal. Gott würde dafür sorgen, dass Thankmar den Platz auf dem Thron einnahm, ebenso wie Gott die Macht der Seherin brechen konnte, irgendwann.
Dann kam Thankmar wieder der Schmetterling in den Sinn.
Er griff nach seinem Amulett und zischte durch die zusammengepressten Zähne: «Ich muss sie haben!»
«Das wird nicht einfach werden», meinte Ernust. «Sie wird nicht nur von den Dänen bewacht. Seht Ihr die anderen Männer bei ihnen am Tisch? Zwei davon waren auch auf dem Sklavenmarkt. Ich glaube, es sind Seeleute. Wir sollten Verstärkung holen.»
Thankmar schüttelte den Kopf. «Das dauert zu lange. Wir müssen sofort handeln.»
Er dachte angestrengt nach. Viel Zeit blieb ihnen nicht. Bald würde die Sonne untergehen und das Gasthaus schließen. Da fiel ihm die naheliegendste Lösung ein.
«Wir kaufen ihnen die Sklavin ab.»
Er klopfte auf den Lederbeutel an seinem Gürtel, in dem genug Münzen für drei oder vier Sklaven waren.
Thankmar ging voran zu dem Tisch, baute sich davor auf und streckte den Rücken durch. Er schlug seinen Mantel zurück, um sein
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