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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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über den Vogel zu wundern, auch wenn ihm dessen Verhalten anfangs unheimlich gewesen war. Nur wenige Tage vor der Geburt seines Sohnes Eirik hatte er den Raben in den Bergen von Hladir gefunden. Damals, vor gut zwei Jahren, war der Rabe noch ein Jungtier gewesen, wahrscheinlich erst ein paar Monate alt. Mit gebrochenem Flügel hockte er in einem Gebüsch, wo er sich vor den Adlern versteckte. Als Hakon, den Kopf voll mit Gedanken an seine hochschwangere Frau, an dem Gebüsch vorbeikam, hörte er seltsame Laute, die ihn einen Augenblick lang an ein Kind erinnerten, und sein erster Gedanke war, dass jemand ein Neugeborenes ausgesetzt hatte. Es kam nicht selten vor, dass arme Leute ihre Kinder in den Bergen den Wölfen überließen, wenn sie nicht wussten, wie sie noch ein hungriges Maul stopfen sollten.
    Hakon hatte im Gebüsch nachgeschaut, und während er noch überlegte, was er tun sollte, falls er tatsächlich ein Kind fand, stieß er auf den schwarzgefiederten Vogel. Als er ihn in die Hand nahm, zeigte der Rabe keine Furcht vor ihm. Das änderte sich auch nicht, als Hakon ihn mit zurück auf den Jarlshof nahm, wo er ihn pflegte, bis der Flügel wieder verheilt war. Daraufhin wollte er den Vogel freilassen, doch der Rabe kehrte immer wieder zu ihm zurück – sogar, als er ihn einmal zu der Stelle in den Bergen brachte, wo er ihn gefunden hatte. Er schrie den Vogel an, er solle verschwinden, und verscheuchte ihn, indem er laut in die Hände klatschte. Doch als er am Abend auf den Hof zurückkehrte, erwartete ihn der Rabe auf dem Torpfosten sitzend und begrüßte ihn mit dem schönsten Krächzen, das er je von sich gegeben hatte. Danach hatte er nicht wieder versucht, den Raben loszuwerden; auch wenn er sich natürlich fragte, warum das Tier nicht von sich aus wegflog.
    Unterdessen war Eirik geboren worden, ein gesunder, kräftiger Junge, und Hakon ertappte sich mehr als einmal bei dem Gedanken, nun zwei Kinder zu haben.
    Daher war es auch kein Wunder, dass der Rabe Hakon auf das Schiff begleitet hatte, nachdem das Grauen über Hladir hereingebrochen war. Und jetzt war Hakon mehr als froh, diesen Gefährten bei sich zu haben.
    In der Eichenkrone stieß der Rabe erneut ein gedämpftes Krächzen aus.
    Hakon zog einen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn auf die eingespannte Bogensehne. Der Bogen war hervorragend gearbeitet: Er war leicht und kräftig und lag wunderbar in der Hand. Im Morgengrauen hatte er ihn ausprobiert, und alle Pfeile hatten getroffen.
    Sie würden auch ihr nächstes Ziel nicht verfehlen.
    Hakon hörte Geräusche. Er lugte hinter der Eiche hervor und sah zwischen den Bäumen die roten Mäntel schimmern. Noch waren die Soldaten dreißig, vierzig Schritt von den Baumstämmen entfernt. Hakon hatte sie quer über den Weg gezogen, nachdem er den Raben in der Ferne hatte schreien hören.
    Die Stimmen wurden lauter. Jetzt waren auch Rufe zu hören. Die Soldaten hatten das Hindernis entdeckt.
    Hakon verließ sein Versteck, doch dann hielt er inne. Irgendetwas stimmte nicht. Die Soldaten gingen zu Fuß und trugen weder Waffen noch Helme, sogar die Stiefel hatten sie ausgezogen.
    Was hatte das zu bedeuten?
    Und wo war der Graf? Hakon hatte erwartet, dass er an der Spitze des Trupps reiten würde, sodass er den Angriff direkt auf ihn konzentrieren konnte. Stattdessen saß dort ein mit einer dunklen Kutte bekleideter Mann, vermutlich ein Priester, auf einem Esel.
    Aber Hakon hatte keine Zeit, sich über den seltsamen Aufmarsch zu wundern. Wenn die Soldaten in diesem Augenblick in den Wald schauten, würden sie ihn zwischen den Bäumen entdecken. Noch schenkten die Männer ihre ganze Aufmerksamkeit den Baumstämmen, und sie würden sie bald zur Seite geräumt haben.
    Hakon pirschte durchs Unterholz, bis er den Grafen am Ende des Trupps entdeckte. Er war allein zurückgeblieben, während sich seine Männer an dem Hindernis zu schaffen machten. Er trug als Einziger Helm und Schwert und war zudem durch einen ledernen Brustpanzer geschützt.
    Hakon musste seinen Hals treffen. Vielleicht hatte er nur einen einzigen Schuss – und der musste tödlich sein.
    Er schlich weiter, bis er auf Höhe des Grafen war. Es war eine denkbar ungünstige Stelle, da der Boden hier mit alten, dünnen Ästen übersät war. Vorsichtig, um auf keinen der Zweige zu treten, schlich Hakon zu einem Baum und verbarg sich dahinter.
    Er spannte die Sehne. Seine Hände zitterten. Er zwang sich, gleichmäßig zu atmen, und wurde ruhig. Dann

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