Das Lied des Todes
ließ sich davon nicht stören und breitete ein mit bunten Sonnenmustern besticktes Tuch vor dem Feuer aus. Sie strich den Stoff überall glatt und holte dann aus einer Truhe einen in ein Tuch eingeschlagenen Bogen ohne Sehne und einen mit gefiederten Pfeilen gefüllten Köcher.
Aki hatte diese Sachen niemals zuvor im Haus gesehen.
Sie reichte den Bogenschaft an den Fremden weiter. Er nahm ihn prüfend in die Hände und nickte anerkennend.
«Er wurde aus Eschenholz gefertigt», erklärte Velva.
Sie gab ihm auch noch den Pfeilköcher sowie eine Sehne, die, wie sie erklärte, aus den Fasern einer Pflanze, die man
hampr
, Hanf, nannte, hergestellt worden war.
Nachdem der Krieger die Sehne eingespannt und die aus Eisen geschmiedeten Pfeilspitzen begutachtet hatte, ließ Velva sich die Waffen zurückgeben. Sie legte die Waffen vor sich auf das Tuch und begann mit einem Zauberritual, das Aki schon lange Zeit nicht mehr gesehen hatte.
An den Rand des Tuchs stellte sie eine aus Speckstein geschnitzte Figur des Gottes Odin. Daneben legte sie ein Amulett, das der Krieger ihr gegeben hatte. Nun füllte Velva eine Tonschale mit trockenen Zweigen und entzündete sie mit einem brennenden Span. Als die Zweige in der Schale Feuer gefangen hatten, streute sie mit Farnsamen angereichertes Räucherwerk darüber.
Ein würziger Geruch breitete sich im Grubenhaus aus.
Velva beugte ihren Kopf so tief über die qualmende Tonschüssel, dass Aki schon befürchtete, ihre Haare würden Feuer fangen. Doch bevor das geschehen konnte, richtete sie sich wieder auf und hatte plötzlich einen der Pfeile in der Hand. Mit weit aufgerissenen, vom Rauch geröteten Augen begann sie zischelnde Laute auszustoßen, um dann den Pfeil mit all ihrer Kraft in den Boden vor dem Tuch zu rammen.
«Ihr Götter der unteren Welten!», stieß sie aus. «Ich, die Seherin Velva, rufe Euch an. Herren der finsteren Welt! Herren des Totenreichs! Hört, was ich Euch zu sagen habe. Schützt diesen Mann, Hakon, bei dem, was er tun muss. Schützt die Waffen, die Ihr ihm durch mich aushändigt – damit diese Pfeile die Herzen des Feindes durchbohren …»
Akis Herz trommelte. Schon viele Male hatte er seine Mutter bei Zauberritualen beobachtet, aber niemals zuvor hatte sie ausschließlich die finsteren Mächte beschworen. Das war gefährlich. Velva hatte ihm erklärt, dass bei den Zeremonien immer das Gleichgewicht zwischen den höheren und den unteren Welten, dem Bösen
und
dem Guten, herzustellen war.
Was hatte es also zu bedeuten, wenn sie sich heute nur an die Götter der Dunkelheit wandte?
Und was – verdammt noch mal! – führte dieser geheimnisvolle Krieger im Schilde?
«Herren der Dunkelheit!», rief Velva. «Tränkt die Hände dieses Mannes mit Blut! Er soll töten! Töten!»
Für einen Moment vergaß Aki sogar seine Angst vor dem kommenden Tag.
5.
Ein schauriges Krächzen zerriss die Stille der Nacht. Es klang in der Walddunkelheit wie das Knarren der sich öffnenden Tür zum Geisterreich.
Thankmar zuckte auf seinem Pferd zusammen.
«Habt Ihr das gehört?», fragte er leise.
«Natürlich», erwiderte Poppo, der neben ihm ritt.
Vor ihnen trabte Ernust auf seinem Pferd, die anderen Soldaten waren hinter ihnen.
Der Bischof hielt seine Fackel höher. Der flackernde Schein fiel zu beiden Seiten des Wegs auf die Bäume. Aber es war nichts zu erkennen außer den Stämmen, die den nächtlichen Reitern Spalier standen.
Noch in der Abenddämmerung hatten sie Erlings Hof wieder verlassen. Thankmar hatte dort gefunden, was er suchte, und erfahren, was er wissen musste. Also wollte er so schnell wie möglich nach Haithabu – auch wenn das bedeutete, dass sie in der Dunkelheit unterwegs waren. Nachts, wenn die Dämonen aus den Träumen zum Leben erwachten.
Die Soldaten hätten es sicher vorgezogen, die Nacht auf dem Hof zu verbringen. Schließlich gab es dort reichlich Bier und Fleisch und natürlich die beiden jungen Mägde, die noch einmal davongekommen waren. Gunnlaug war von Thankmar getötet worden, ebenso der Knecht, der versucht hatte, die Kinder zu beschützen. Das hätte er sich sparen können. Weil Gunnlaug den Namen der Zauberin verriet, hatte Thankmar beschlossen, den Kindern das Leben zu schenken. Natürlich wäre es keine Schande gewesen, die Heidenbälger an die Dachbalken zu hängen. Aber Thankmar war ein Mann der Ehre – und als ein solcher stand er zu seinem Wort. Natürlich nur, wenn es ihm nicht selbst schadete.
«Klang wie ein
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