Das Lied des Todes
Vogel», meinte Poppo.
«Vielleicht ein Rabe», erwiderte Thankmar. «Vielleicht auch etwas anderes. Die Nacht kennt viele Geister.»
«Seid Ihr abergläubisch, Herr Graf?»
«Abergläubisch?» Thankmar zog es vor, diese Frage nicht zu beantworten. Er zuckte nur mit den Schultern.
Er bemerkte den Blick, der ihn im Schein der Fackel zu durchbohren schien. Thankmar versuchte, so gelassen wie möglich dreinzuschauen. Poppo sollte nichts von der Furcht wissen, die unter Thankmars Mantel kroch wie eine eiskalte Schlange.
Natürlich war er abergläubisch! Natürlich glaubte er, dass die Welt voller Geister war, vor allem nachts. Denn so war es ja: Auch hier, links und rechts des Weges, gleich hinter den ersten Baumreihen, lauerten die Schattenwesen, die Kreaturen der Hölle, die ihn in seinen Träumen heimsuchten.
Aber warum sollte er seine Überzeugung diesem eifrigen Missionar auf die Nase binden, für den es nur einen Geist gab – den Heiligen Geist?
Thankmars Aberglaube war nur ein Grund dafür, die Zauberin unbedingt unschädlich zu machen. Nach allem, was er über sie gehört hatte, stand für ihn außer Frage, dass sie mit den Mächten der Dunkelheit in Verbindung stand. Die wie auf wundersame Weise geheilte Gunnlaug war die letzte Bestätigung gewesen.
Aber es gab noch einen anderen, weitaus wichtigeren Grund, die Seherin zu vernichten. Sie war nicht irgendein Kräuterweib, das die eitrigen Beine kranker Bäuerinnen mit Heilsalben bestrich. Nein, sie war eine Berühmtheit in der Mark – und daher eine Gefahr für Thankmars Pläne. An den Nachtfeuern sang man ihre Lieder, erzählte sich ihre Geschichten von den alten Göttern, und man holte sich ihren Rat ein. Obwohl Thankmar und Poppo ihr jegliche Ausübung von Magie verboten hatten, gab es noch immer viele Menschen, die dieses Weib verehrten, viel zu viele. Daher musste er die Zauberin erwischen, bevor die Nachricht von Gunnlaugs Tod sie erreichte und sie fliehen konnte.
Und dann musste er nur noch dafür sorgen, dass sie zum Tode verurteilt wurde.
Nachdem die Männer eine Weile weitergeritten waren, ertönte erneut der heisere Schrei und riss Thankmar aus seinen Gedanken. Er drehte sich zu Poppo um.
«Wie weit ist es noch nach Haithabu?», fragte Thankmar.
«Nicht mehr weit, ein paar Meilen vielleicht. Aber wir werden bald schneller vorankommen. Schaut!»
Thankmar sah in die Richtung, in die Poppo seinen Arm ausstreckte.
«Die Morgendämmerung!», sagte der Bischof.
Tatsächlich – über den dunklen Wipfeln im Osten zeigte sich ein erster Silberstreif.
Endlich! Mit der Nacht gingen auch die Geister. Thankmar atmete tief ein. Im heraufdämmernden Morgen roch er die nach Moos und Laub duftende Waldluft.
«Das wird ein schöner Tag für einen König», sagte Thankmar.
Poppo schaute ihn verwundert an. «Einen König? Wen meint Ihr?»
Thankmar lachte. «Den Dänenkönig Harald Gormsson. Habe ich Euch nicht erzählt, dass er sich in diesen Tagen in Haithabu aufhält?»
«Doch, doch, das habt Ihr getan. Aber was hat unsere Mission mit dem Dänenkönig zu tun?»
«Das werdet Ihr noch sehen, mein Freund.»
Bald darauf begann der Tag zu klaren, und in den Bäumen erwachte das Leben. Wo eben noch ein einziger Rabe gekrächzt hatte, erhob sich nun ein Chor aus Vogelstimmen.
Die Helligkeit verdrängte nicht nur Thankmars dunkle Gedanken, auch der zumeist mürrische Bischof schien geradezu von euphorischer Stimmung gepackt zu werden. Mit Versen aus der Heiligen Schrift begrüßte er den Tag.
«Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze …»
Ernust drehte sich überrascht nach ihm um. Doch der Bischof ließ sich nicht beirren und psalmodierte immer lauter vor sich hin.
Eigentlich ist dieser Mann ein Geschenk des Himmels für mich, dachte Thankmar heiter.
Poppo war ein Mann der Tat, kein Schwätzer wie viele andere Priester, denen Thankmar begegnet war. Besonders gefiel ihm Poppos Einstellung zur Missionierung der Heiden: Nicht mit einschmeichelnden Worten predigte er das Evangelium, sondern mit Schwert und Feuer – die einzige Sprache, die die Dänen verstanden.
«Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer», trällerte Poppo. «Der König ist arm und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen und der Eselin …»
Ernusts Stimme unterbrach den Bischof. «Da, Herr – Haithabu!»
Nun sah auch Thankmar die Rauchsäulen, die sich am windstillen Morgen über den Wipfeln erhoben.
«Mir ist ein
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