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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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ein blutrotes Segel.
    Er arbeitete sich durch die Menge vor ins Atrium. Auch hier waren überall Menschen. Er drängte weiter, kam an einem Thron auf einem Steinsockel vorbei und stieg dann auf einen erhöhten Säulengang, von wo aus er über die Köpfe der Schaulustigen hinweg das Portal sehen konnte.
    Der Eingang zur Kirche wurde von Blutmänteln gesichert. Sie hatten sich in Abwehrhaltung aufgestellt und richteten ihre Waffen auf die Soldaten des Königs, die ihnen inzwischen zwar deutlich überlegen waren, aber keine Anstalten machten vorzurücken. Die Blutmäntel verhöhnten und beschimpften die Gegner.
    Hakon zog die Kapuze ab und beschattete die Augen mit der rechten Hand. Die Sonne stand über der Kirche. Aber er konnte den Mann sehen, der im Fenster erschienen war.
    «Ist er das?», fragte eine vertraute Stimme hinter ihm.
    Hakon drehte sich um. «Wie hast du mich gefunden?»
    «Ich bin dir gefolgt», erwiderte Malina und zeigte auf den Glockenturm.
    «Ja, das ist der Mann, der …»
    Am Vordereingang des Atriums erhoben sich Stimmen. In die starre Menge kam Bewegung, als ein halbes Dutzend Soldaten durch das Tor lief. Einige von ihnen bluteten aus Kopfwunden. Entsetzte Rufe waren zu hören, wurden lauter und rollten wie eine Welle durch die Menge im Atrium.
    «Im Heerlager wird gekämpft», übersetzte Malina, was sie hörte. «Man sagt, das Heer des Grafen greife an.»
    Hakon bemerkte den Brandgeruch, der sich rasch ausbreitete.
    Er schaute wieder zum Turm hinauf. Das Banner war das Zeichen gewesen.
    Im Gegenlicht glaubte er erkennen zu können, dass der Graf lachte. Er hatte die Arme ausgebreitet wie ein Adler seine Schwingen. Wie ein Herrscher, der sein Volk umarmen will. Um es an sich zu drücken – und zu zerquetschen.
    Unten im Atrium hielt der König ein Schwert in der Hand. Er stand bei seinen Soldaten. Ein Schatten legte sich über ihn und die Menge, als sich eine Wolke wie ein Riegel vor die Sonne schob. Wind kam auf.
    «Ist das da oben dein Vogel?», fragte Malina überrascht.
    Hakon nickte. Der Rabe hatte sich auf der Turmspitze niedergelassen und war kaum mehr als ein schwarzer Punkt.
    «Schade, dass du nicht auch fliegen kannst», meinte sie, und als Hakon ihr einen finsteren Blick zuwarf, ergänzte sie lächelnd: «He, Krieger! Ich will mich nicht über dich lustig machen. Aber ich bin überzeugt, dass du alles unternehmen wirst, um in den Turm zu kommen.»
    Natürlich wollte Hakon das. Nichts anderes wollte er, als den Grafen zu töten! Doch das Portal war mit Blutmänteln verstopft. Sie brüllten immer lauter, als machten sie sich selbst Mut vor der ständig wachsenden gegnerischen Übermacht. Die Soldaten des Königs waren längst so viele, dass sie die Blutmäntel hätten überrennen können. Aber der Graf hatte die Geisel, und damit bestimmte er das Geschehen.
    «Ich habe gehört», sagte Malina, «dass es in deiner Heimat Berge gibt, die so hoch und steil sind, dass sie bis zum Himmel hinaufreichen.»
    Hakon schaute sie fragend an. Bevor er etwas erwidern konnte, ergriff sie seine Hand.
    «Warum tust du das?», wollte er wissen.
    «Ich zeige dir einen Weg.»
    «Einen Weg in die Kirche?»
    «Komm!»
    Er ließ sich von ihr aus dem Säulengang und durch die Menge führen und dann durch das Tor an den verletzten Soldaten vorbei ins Freie. Der Kampf tobte keine dreihundert Schritt vom Atrium entfernt. Der Boden war mit Leichen übersät. Hakon glaubte zu erkennen, dass es die Soldaten des Grafen waren, die ihre Gegner immer weiter zur Pfalanza drängten. Die Königstreuen leisteten erbitterte Gegenwehr. Viele von ihnen trugen jedoch keine Rüstungen. Es sah so aus, als seien sie von dem Angriff überrumpelt worden. Auch im Lager schien überall gekämpft zu werden. Schwarze Säulen stiegen über den Zelten auf, bis der aufkommende Wind den Rauch erfasste und zur Pfalanza trug.
    Malina führte Hakon draußen am Atrium entlang und dann weiter, bis sie in der Nähe der Außenseite der Kirche zum Stehen kam. Das Gotteshaus war hier nicht von einer Mauer umgeben.
    «Bist du jemals auf einen steilen Berg geklettert?», fragte Malina.
    Hakon legte die Stirn in Falten. Dann verstand er, und sein Blick ging an der Wand hinauf bis zu einem Fenster in einer Höhe von gut vierzig Fuß.
    Das ist unmöglich, war sein erster Gedanke.
    Dennoch trat er vor die Mauer, die ihm eben noch glatt erschienen war wie eine Eisfläche. Er legte seine Hand darauf und ließ sie über die mit Meißeln bearbeiteten

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